Mannheim. Ist der Rettungsdienst zu langsam? Darum drehte sich im Kern eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof. Nach mehr als fünf Stunden blieb offen, ob die höchsten Verwaltungsrichter des Landes dafür überhaupt zuständig sind. Doch dass das Land sich nicht an sein eigenes Rettungsdienstgesetz hält, das haben sie schon mal unzweideutig festgestellt.
„Bislang hat das niemanden interessiert“, so Andreas Pitz. Allein darin sah Pitz schon einen Erfolg. Der auf Rettungsdienst und Medizinrecht spezialisierte Mannheimer Professor sowie Stadtrat Chris Rihm (Grüne) hatten die Klage initiiert. Beide waren lange selbst im Rettungsdienst tätig. Stadträte von SPD, CDU, FDP, ML und Linken sowie sechs Notfallmediziner haben sich angeschlossen. Sie sahen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt, weil der Rettungsdienst im Land „nicht leistungsfähig“ genug sei.
Ministerialrätin aus Innenministerium anwesend
Eine Ministerialrätin aus dem Stuttgarter Innenministerium sagte in der Verhandlung offen, dass man bei der Hilfsfrist im Rettungsdienst „noch nie“ von zehn Minuten ausgegangen sei – obwohl die im Gesetz verankert sind. In „möglichst nicht mehr als zehn, höchstens 15 Minuten“ soll Hilfe kommen, heißt es da – aber das Land legte „aus Gründen des Wirtschaftlichkeitsgebots“, wie sie sagte, bei allen Planungen immer nur 15 Minuten zugrunde, will jetzt auf zwölf Minuten gehen.
Rettungsdienst-Begriffe
- Hilfsfrist: Laut Rettungsdienstgesetz Baden-Württemberg soll „die Zeit vom Eingang der Notfallmeldung in der Rettungsleitstelle bis zum Eintreffen der Hilfe am Notfallort an Straßen (. . . ) nicht mehr als zehn, höchstens 15 Minuten betragen“. Ziel ist, das in 95 Prozent der Fälle zu schaffen.
- Änderung: Per Rettungsdienstplan wurde die Frist nun auf zwölf Minuten gesetzt – aber zugleich zählen nur Rettungswagen, nicht mehr der Notarzt. Spezialfälle (Baby-Notarzt, schwergewichtige Patienten, auch eilige Verlegungen von einer Klinik in die andere) werden herausgerechnet, ebenso ist nicht mehr der „Eingang des Notrufs“ ausschlaggebend, sondern der Moment, wenn ein Disponent den Wagen losschickt.
- Anderswo ist das kürzer: In Nordrhein-Westfalen sind es fünf bis acht Minuten, in Hessen zehn Minuten in 90 Prozent der Fälle, in Bremen zehn Minuten, in Sachsen und im Saarland zwölf Minuten.
- Bereichsausschuss: Der Rettungsdienst ist in Baden-Württemberg den Rettungsorganisationen übertragen. Entscheidungen fallen mit den Krankenkassen im Bereichsausschuss. Die Stadt hat nur Gastrecht. Auf Landesebene gilt das ebenso. pwr
Da schauten die Richter einander verwundert an, dann blätterten sie wieder und wieder in ihren Gesetzestexten. Aber was sie hörten, steht da nicht. Und das rügten sie auch deutlich. „Wir haben im Gesetz zehn Minuten“, so ein Richter. „Grenzwertig“, meinte ein anderes Mitglied des fünfköpfigen Senats. Und der Vorsitzende kam zu dem Ergebnis, dass das Land „sehr eindeutig hinter den gesetzlichen Anforderungen zurückbleibt“. Man könne doch „nicht völlig außer Betracht“ lassen, dass das Gesetz von zehn Minuten spreche, „das muss man doch irgendwo abbilden“. Wenn das Land das ändern wolle, müsse es das per Gesetz tun. Das sei nur Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, mahnte ein Richter, nicht des Ministeriums. „Falsche Reihenfolge“, so der Vorsitzende.
Schutzpflicht des Staates
Denn auf der Basis des alten Gesetzes hat das Land am 1. September einen neuen Rettungsdienstplan veröffentlicht – eine Art Rechtsverordnung, welche die rettungsdienstliche Versorgung regelt. Darin wird nur noch von zwölf Minuten gesprochen, aber nur für den Rettungswagen. Eine feste Frist für das Eintreffen des Notarztes gibt es gar nicht mehr. Doch auch bei der neuen Hilfsfrist blieb bei der Verhandlung offen, wie verbindlich das sein soll. Stellt die Frist einen Rechtsanspruch für Bürger da, innerhalb dieses Zeitraums Hilfe zu bekommen – oder ist es, wie das Land argumentiert, nur eine Planungsgröße, um die Zahl der nötigen Rettungswagen zu definieren? Und welche Einsätze werden eingerechnet, welche nicht?
Pitz argumentierte, der Staat habe eine Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern. Bei Rettungseinsätzen gehe es „um Leben und Tod oder zumindest schwere gesundheitliche Schäden“, die bei schnellerem Eintreffen von Notärzten verhindert werden könnten. Weil der Bürger aber im Moment des Notfalls – anders als bei Klagen auf Versorgung etwa gegen Krankenkassen oder im Sozialrecht – keinen Rechtsschutz einklagen könne, müsse der Gesetzgeber rechtzeitig bestmöglich vorsorgen. Schließlich sei der Rettungsdienst „ein hoch ausgelastetes System“, so Pitz.
Bisher fallen alle Entscheidungen in Bereichsausschüssen, in denen Vertreter von Krankenkassen und Hilfsorganisationen sitzen. Laut Pitz „ein Gremium, das keinerlei Legitimität besitzt. Ich weiß nicht mal, wer da drin sitzt“. Und weil das Gremium auf Landesebene ein neues Gutachten zur Struktur des Rettungsdienstes plant, das aber noch gar nicht vergeben ist, werden vor Ort als nötig erachtete zusätzliche Rettungswagen – in Mannheim etwa einer für die südlichen Stadtteile – derzeit blockiert. Auch dagegen richtet sich die Klage, ebenso gegen weitgehende Rechte, die Notfallsanitätern eingeräumt werden, ohne dass ein Arzt dabei ist.
Mehrfach haben die Richter indes erkennen lassen, dass sie zweifeln, ob die Klage überhaupt zulässig ist. „Wir wissen noch nicht, ob wir über die Zulassungshürde springen“, erklärte der Vorsitzende des Senats. Zuvor hatte sich alleine zwei Stunden lang die Verhandlung um diese Formalien gedreht. Dabei bekannte der Vorsitzende, die Materie sei dem Senat „nicht ganz vertraut“.
Im Kern geht es um die rein formaljuristische Frage, ob die Neuregelungen vom Land überhaupt direkte rechtliche Auswirkungen auf die Bürger haben – oder ob es reines Binnenrecht ist, wie das Land behauptet. Danach betrifft das nur die Beziehungen und internen Planungen zwischen Land, Krankenkassen und Hilfsorganisationen. Das wäre dann „der Normenkontrolle nicht zugänglich“, so der Vorsitzende des Senats, weshalb Bürger gar keine Klagebefugnis hätten. Allein die Frage, welche juristische Konstruktion die Bereichsausschüsse haben, blieb schon offen. „Ist das alles freischwebend?“, rätselte ein Richter. „Das Konstrukt ist tatsächlich schwer zu greifen“, so Pitz, der Senat betrete bei einem Urteil daher Neuland.
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