Mannheim. Es fällt schwer, sich in Mannheim die Zustände vorzustellen, die 6800 Kilometer entfernt in Kabul herrschen müssen. Nachdem am 15. August vergangenen Jahres die Taliban die Hauptstadt Afghanistans erobert und in der Folge die Alliierten das Land im Chaos verlassen haben, ist an ein Leben nach westlichen Standards - also jenen Werten, die Streitkräfte 20 Jahre propagiert haben - nicht mehr zu denken. „Die Situation hat sich in den letzten Monaten so dermaßen verschlechtert, das ist schwer in Worte zu fassen“, erklärt die Fernsehjournalistin Vanessa Schlesier dieser Redaktion. „Die wirtschaftliche und humanitäre Situation ist katastrophal.“
Dreimal ist die Mannheimerin seit November in Afghanistan gewesen, zuletzt Anfang Juni, um die Arbeit der „Kabul Luftbrücke“ journalistisch zu begleiten. Die Nichtregierungsorganisation evakuiert Menschen mit einer Aufnahmezusage des Auswärtigen Amts sowie Ortskräfte, also Afghaninnen und Afghanen, die während der Besatzung auch die Bundeswehr unterstützt haben. In der Mediathek der ARD ist nun eine Dokuserie über die Arbeit der Organisation zu sehen.
„Meine Co-Autoren und ich wollen Menschen in Deutschland bewusst machen, wie schwierig und schmerzhaft es ist, sein Leben und seine Heimat zu verlassen“, sagt Schlesier. „Wir müssen uns immer klar machen, dass niemand Afghanistan freiwillig verlassen will, sondern dass diese Menschen nach Deutschland müssen, weil sie sonst sterben.“
Die Frau als Eigentum
Inzwischen könne man sich in Afghanistan kaum mehr frei oder gar unbeobachtet bewegen. „Wenn ich mit der Kamera drehe, spricht mich innerhalb von fünf Minuten ein Talib an und fragt, wer ich bin und was ich mache - egal, wo ich bin.“ Drehgenehmigungen und ein Brief des Außenministeriums schützen Schlesier. „Die Taliban wissen aber immer, was und wo etwas passiert.“
Mit einer sich phasenweise fast überschlagenden Stimme berichtet Schlesier von jungen Familien, von Vätern, die Morddrohungen bekommen oder Attentate überlebt haben, von Jungen, die „unter Lebensgefahr in die Vergangenheit eintauchen“ und an geheimen Orten gemeinsam mit Mädchen Volleyball spielen. Und sie erzählt von „bemerkenswerten und wahnsinnig mutigen“ Frauen, die sich auch nach einem Jahr noch gegen das Regime wehren. Noch immer würden in Kabul ein- bis zwei Mal wöchentlich etwa 20 Frauen demonstrieren - bis nach wenigen Minuten Taliban kämen. Die würden erst in die Luft schießen, dann Teilnehmerinnen verfolgen und bedrohen. „Ihr habt uns unsere Arbeit genommen, ihr habt uns unsere Freiheit genommen, nehmt uns nicht unsere Bildung“, brüllen die Frauen, wie Schlesier schildert.
Das Interview mit der Organisatorin einer dieser Proteste hat Schlesier besonders beeindruckt. Die Taliban seien „ungebildete Kämpfer aus den Bergen“, habe die Frau ihr gesagt. „Wir sind gebildete Frauen, die den Taliban helfen könnten, wenn sie uns lassen würden“, erinnert sich Schlesier an das Gespräch, das auch Teil der Dokuserie ist.
Von Zusammenarbeit aber ist nichts zu spüren. Im Gegenteil. „Der Krieg in der Ukraine war ein Glücksfall für die Taliban, weil sich niemand mehr für sie interessiert“, sagt Schlesier. Neben der internationalen Politik hätten sich auch Kriegsreporter von Kabul ab- und dem Osten Europas zugewandt. „Die Taliban machen, was sie wollen.“
Die Rolle der Frau sei die einzige Frage, in der die Taliban eine Strategie verfolgen würden. „Sie wissen nicht, wie man die Wirtschaft aufbaut. Sie wissen nicht, wie man die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommt. Sie wissen nicht, wie man Menschen ernährt“, sagt Schlesier. „Sie fokussieren sich nur darauf, Frauenproteste im Keim zu ersticken und Dekrete zu erlassen, die Frauen ihren Lebensraum nehmen.“ Neben der Auflage, dass Frauen im Fernsehen ihr Gesicht nicht mehr zeigen dürfen oder auf der Straße sowohl Kopftuch als auch Gesichtsmaske tragen müssen, gebe es einen „ganz perfiden“ Erlass. „Nicht Frauen werden bestraft, wenn sie gegen Regeln verstoßen, sondern die für sie zuständigen Männer.“ So werden Frauen zum Eigentum ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder gemacht. Vor allem bei ihrem Besuch Anfang Juni habe Schlesier gespürt, wie die Taliban „die eine Hälfte der Bevölkerung zu Leibeigenen der anderen Hälfte“ machten. „Es war schlimm zu sehen, wie sehr sich die Ideologie der Taliban in den Köpfen festgesetzt hat und wie sehr die Frauen im öffentlichen Leben nicht mehr existieren dürfen und ihnen alles genommen wird, was lebenswert ist.“
Mannheim sagt Ja! ruft zu Spenden für afghanische Familie in Mannheim auf
Der gemeinnützige Verein Mannheim sagt Ja! sammelt Spenden für die nach Mannheim geflüchtete Familie K. aus Afghanistan. Der vierköpfigen Familie, die ihren vollständigen Namen nicht nennen will, droht eine Abschiebung nach Kroatien, wo sie auf ihrer Flucht in Europa registriert worden war. Mit Spenden sollten Anwaltskosten finanziert werden, erklärt Sandra Wyzisk aus dem Vorstand von Mannheim sagt Ja!.
Herr und Frau K. sitzen in ihrem Wohnzimmer. Beide fühlten sich in Mannheim wohl, sagen sie im Gespräch mit dieser Redaktion. „Wir fühlen uns hier sicher, und vor allem sind meine Kinder in Sicherheit“, erklärt Herr K. auf Englisch. In Kabul habe er, unter anderem als Übersetzer, für ausländische Unternehmen gearbeitet, was ihn für die Taliban zum Feind gemacht habe. „Sie haben gedroht, meine Kinder, meine Frau und mich zu töten.“ Außerdem habe es Anschläge auf Schulen und andere Bildungseinrichtungen gegeben.
Die Familie verlässt 2016 ihre Heimat. „Es ist eine sehr lange Reise geworden, die meiste Zeit zu Fuß“, sagt Herr K. Die Flucht führt in die Türkei, von dort aus nach Griechenland. Drei Jahre lang halten sich die K.s in dem Land auf – die griechische Regierung lehnt zwei Anträge auf Asyl ab. „Afghanistan ist sicher, Sie müssen zurück“, habe es geheißen, sagt Herr K., der in dieser Zeit für andere Geflüchtete als Übersetzer arbeitet. Die Flucht führt weiter durch Europa, auch in Kroatien muss die Familie ihre Fingerabdrücke abgeben und wird als Geflüchtete registriert.
Im Januar erreicht die Familie Deutschland, wohnt zunächst bei Angehörigen im hessischen Gießen. Im Februar kommen die K.s nach Mannheim. „Das ist eine große Stadt, und wir hoffen, dass wir hier Arbeit finden“, sagt Herr K. „Ich will arbeiten, Geld verdienen und auf eigenen Füßen stehen.“ Während die ältere Tochter eine Grundschule besucht, habe die zweite Tochter nun die Zusage für einen Platz im Kindergarten bekommen, berichtet Herr K. stolz.
Warum wäre eine Abschiebung nach Kroatien schlimm? „Sowohl Afghanistan als auch Kroatien sind für uns riskant“, erklärt Frau K., die in Afghanistan auch Deutsch gelernt hat. „Wir wollen hier in Deutschland leben.“ Ihr Mann ergänzt, dass die Familie nie in Kroatien um Asyl gebeten habe und dort nicht leben wolle. „Die Bildungschancen für Kinder sind in Kroatien schlechter. Außerdem sind Flüchtlinge in Kroatien nicht willkommen, weil selbst Kroaten wenig Arbeitsplätze finden“, sagt er.
Spenden nimmt der Verein Mannheim sagt Ja! unter der Iban DE16 6709 0000 0091 9753 00 mit dem Betreff „Familie K.“ entgegen. seko
Schlesier sei als Ausländerin vergleichsweise „bevorzugt“ behandelt und „geschützt“ worden. „Die Taliban brauchen die Unterstützung aus dem Ausland.“ Oft seien Kämpfer gekommen und hätten wissen wollen, wie Schlesier das Land nun finde. Auf die Nachfrage, wieso sie Frauen so einschränken, werde ihr mit allen möglichen Bildern geantwortet. Mal war die Frau der Honigtopf, den es abzudecken galt, um ihn vor Fliegen zu schützen, mal die Walnuss, die ohne Schale Bakterien bekommt. „Die Denkweise ,Die Frau ist nichts wert’ hat sich auch bei allen Männern, die keine Taliban sind, schon durchgesetzt.“ Es gehe darum, wer Macht besitze. „Eine Männerbewegung, die für Frauen Partei ergreift, habe ich nirgends gesehen.“
Schlesier, 1984 geboren, ist „Mannheimerin in der vierten Generation“. Sie arbeitete unter anderem für „Die Welt“ und „Spiegel TV“, ehe sie sich aus dem Tagesjournalismus verabschiedete, „um mich länger mit Themen zu beschäftigen“. Noch heute lebt ihr Vater in Mannheim, „wo er tief verwurzelt ist“.
Die Arbeit der „Kabul Luftbrücke“ sei im Laufe der Monate komplizierter geworden. „Es wird immer schwieriger, Afghanistan zu verlassen“, sagt Schlesier. So vergebe etwa das Nachbarland Pakistan, von wo aus die Luftbrücke Flüge organisiert, nur noch wenige Visa an Afghanen - „und die sind sehr teuer“. Etwa 70 Prozent derer, die von Deutschland eine Aufnahmezusage besitzen, und 75 Prozent der Ortskräfte seien seit dem Fall Kabuls evakuiert worden, erklärt Schlesier und beruft sich auf Zahlen, die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im Interview zur Doku nennt.
Wertschätzung der Politik
Am 8. Dezember hat Baerbock das Auswärtige Amt von Heiko Maas (SPD) übernommen. „Das Außenministerium kommuniziert nun ganz anders und ist deutlich motivierter“, sagt Schlesier. So habe die Grünen-Politikerin etwa ein Haus zur Unterbringung der Evakuierten in Pakistans Hauptstadt Islamabad besuchen wollen - eine Corona-Infektion habe das verhindert. Für Schlesier dennoch ein Zeichen der Wertschätzung. „Vor einem Jahr hatte die Kabul Luftbrücke nicht mal einen Ansprechpartner im Auswärtigen Amt.“ Diesbezüglich habe sich viel getan. „Der Wille und die Bereitschaft, mit Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen zusammenzuarbeiten, ist viel stärker als in der vorigen Regierung.“
Dennoch gebe es noch kein ausgearbeitetes Aufnahmeprogramm, kritisiert Schlesier. „Natürlich haben wir im Moment viele Probleme auf der Welt - aber es wurde viel Zeit verloren.“ Wie soll es in den nächsten Monaten weitergehen? Schlesier warnt, die Taliban mit Hilfslieferungen oder Hilfsgeldern zu unterstützen. Es müsse vielmehr darum gehen, Organisationen zu stärken, die den Menschen vor Ort helfen. „Frauen und Mädchen in Afghanistan sitzen nicht rum und trinken Tee, sondern verstecken sich jeden Tag und kämpfen um ihr Überleben.“
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-mannheimer-journalistin-lage-in-afghanistan-ist-katastrophal-_arid,1984126.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html