Internationale Politik

Mannheimer Firma Gehr wird 90 - Festakt mit prominentem Gast

Er hat schon Gerhard Schröders Rücken eingecremt - zusammen mit Wladimir Putin. Jean-Claude Juncker, Ex-Präsident der EU-Kommission, war Festredner bei der Firma Gehr. Die Moderation übernahm "MM"-Chefredakteur Kammholz

Von 
Konstantin Groß
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Politik in ungewöhnlicher Kulisse: „MM“-Chefredakteur Karsten Kammholz (l.) und Jean-Claude Juncker. © Konstantin Groß

Mannheim. Der prominente Gast trifft verspätet ein. Der einst höchste Repräsentant Europas kann dabei die Metropolregion im wahrsten Wortsinne erfahren. Denn zunächst landet er irrtümlich in Ludwigshafen, doch sein Ziel liegt auf der anderen Rheinseite: bei der Firma Gehr im Stadtteil Rheinau, die dort ihr 90-jähriges Bestehen feiert. Mit Jean-Claude Juncker, dem ehemaligen Präsidenten der EU-Kommission, als Festredner.

Das Unternehmen, weithin bekannt durch das von ihm produzierte „Kleid“ der Fineliner von Schwan-Stabilo, feiert nicht einfach mit einem Festakt, sondern mit einem Symposium, moderiert von „MM“-Chefredakteur Karsten Kammholz. Der Vormittag gehört Experten: Alexandre Dangis vom Branchenverband EUPC, Erwoan Pezron vom Arkema-Konzern und Gehr-Vertriebsleiter Giorgio Müller. Ihre Botschaft: Auch in dieser Branche gewinnt Nachhaltigkeit immer mehr an Bedeutung. „Wir produzieren bereits CO2-neutral“, berichtet Müller.

Redner fesselt sein Publikum

Der Höhepunkt folgt am Nachmittag – mit Juncker, „einem der bedeutendsten politischen Köpfe Europas“, wie Kammholz erinnert. „Ich bedanke mich für diesen vorgezogenen Nachruf“, stellt dieser sogleich den hintergründigen Humor unter Beweis, für den er bekannt ist: „Redner sagen ja immer, dass sie gerne gekommen sind. Meistens stimmt das nicht. Hier stimmt es natürlich.“

Es ist diese Rhetorik, dank derer in keiner einzigen der folgenden 55 Minuten Langeweile aufkommt. Obwohl das Thema trocken, aber zuweilen auch ernst ist. Doch Juncker macht Hoffnung, animiert zu Stolz auf das Erreichte: den größten Binnenmarkt der Erde, die zweitstärkste Währung der Welt, eine politische Einheit, zu der sich 27 Länder nach vielen Kriegen zusammenfinden: „Die Welt bewundert uns dafür.“

Firma Gehr Kunststoffe

Gegründet: am 1. Mai 1932 von Eduard Gehr in der Schwetzingervorstadt, seit 1956 mit Sitz in Rheinau-Casterfeld.

Weitere Standorte: in Deutschland, Italien, den USA, Indien, Hongkong und China.

Mitarbeiter: weltweit etwa 250, davon 180 in Mannheim.

Firmenleitung: der Enkel des Firmengründers, Helmut Gehr, und dessen Tochter Annette.

Infos: www.gehr.de -tin

Eine Stecknadel fallen hören kann man, wenn Juncker aus dem Nähkästchen der internationalen Politik plaudert – was nächstes Jahr übrigens in einem Buch nachzulesen ist: „Das sollten Sie unbedingt kaufen.“ Etwa vom Sechs-Augen-Gespräch zwischen ihm, Putin und Angela Merkel: „Da hat sie mit Putin Tacheles geredet“, versichert er.

Oder als Juncker bei einem Gipfel in Russland eines Abends von einem Auto abgeholt wird – mit Putin am Steuer, und der sagt: „Jetzt müssen wir noch den Schröder abholen.“ Doch der hat Ischias. Putin sprüht ihm den Rücken ein, Juncker verreibt die Salbe. „Warum erzähle ich das?“, nimmt der Redner manche Miene im Publikum auf. „Um zu zeigen, wie nahe wir uns schon waren“, erläutert er. „Noch am Abend vor dem Überfall auf die Ukraine habe ich es nicht für möglich gehalten, dass es ihn geben wird. Putin hat alles über den Haufen geworfen.“

Juncker: "Bin der Ratzinger Europas"

Und so kommt auch diese Festrede an den aktuellen Ereignissen nicht vorbei. Doch dabei warnt Juncker vor Illusionen: „Die Ukraine ist aktuell nicht beitrittsfähig“, macht er klar: „Ich warne davor, den geschundenen Menschen dort diese Hoffnung mit auf den Weg zu geben.“ Und bis sich diese Situation ändert, „wird es noch sehr lange dauern“, ist er überzeugt: „Das braucht Geduld.“

Um die Kosten der aktuellen Krise zu bewältigen, fordert Juncker, dass stärkere Schultern mehr tragen sollten als schwache. Und er tut dies, wie es seine Art ist, mit einem sehr praktischen Beispiel: „Wir haben zu Hause einen Swimming-Pool“, erzählt er und entschuldigt sich sogleich dafür: „Das war nicht meine Idee, aber meine Schwiegermutter und meine Frau haben darauf bestanden.“ Und der Pool werde mit Gas beheizt. Eine Subventionierung des Gaspreises helfe also ihm genauso wie ärmeren Familien: „Das ist doch unsinnig.“

Firmenchef Helmut Gehr (l.) begrüßt den hochkarätigen Festredner in der Halle. © Konstantin Groß

„Frau von der Leyen hat ja jetzt einen schwierigen Job“, leitet Karsten Kammholz nach dieser engagierten Rede die Fragerunde ein: „Sind Sie froh, dass Sie es nicht mehr machen müssen oder denken Sie die ganze Zeit: Lasst mich doch mal wieder ran?“ „Nein, nein, das würde sie auch nicht wollen“, pariert der Gefragte und berichtet, er habe immer noch ein Büro in der Kommission, achter Stock, von der Leyen das ihre im 13. Stock: „Ich komme mir vor wie Ratzinger in den Vatikanischen Gärten. Der schaut die ganze Zeit auf den Palast des Papstes. Ich bin also der Ratzinger Europas.“

„Wie sehen Sie die EU in zehn Jahren?“, will ein Fragesteller wissen: „Davon habe ich eine feste Vorstellung, aber wenig Hoffnung“, sagt er. Es werde mehr Mitglieder geben, über 30: „Wenn die EU dann nicht reformiert ist, bedeutet das Stillstand.“ Deshalb müssten verstärkt Mehrheitsbeschlüsse her, mit Ausnahmen: „Ob ein Land Soldaten in ein anderes schickt, sollte jedes Parlament selbst entscheiden dürfen.“

„Was halten Sie von der Kunststoff-Politik der EU?“, lautet die letzte Frage. „Ich verstehe davon nichts“, schmunzelt Juncker: „Doch wenn ich noch eine Wahl vor mir hätte, dann würde ich sagen: Sie bekommen eine schriftliche Antwort. Aber so wird es sie nicht geben.“

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