Die Gründung der Spiegelfabrik am 11. Juni 1853 war gleichzeitig die Geburtsstunde eines ganzen Stadtteils. Das Gelände auf dem heutigen Luzenberg, der zum Bezirk Waldhof gehört, war bis 1833 Eigentum des Hofgerichtsrats Karl Theodor von Traitteur. Er nannte sein Gut damals schon „Hof am Wald“ – was dem Waldhof später seinen Namen gab. Doch erst als die Brüder August und Eugen Chevandier aus Paris hier die Fabrik gründeten, entstand der Vorort, wie wir ihn heute kennen – und mit ihm die erste Arbeiterwohnsiedlung Mannheims.
Zwischen 1853 und 1882 entstanden 19 Blöcke mit 346 Wohnungen für die Arbeiter. In jedem Haus wohnten vier Familien. Jede 40 Quadratmeter große Wohnung verfügte über eine Stube, eine Küche und eine Bettnische. Die Toilette – mit Wasserspülung – teilten sich je vier Familien. Zu jeder Wohnung gehörten ein Nutzgarten und ein Kleintierstall. Die kleine Stadt war für damalige Verhältnisse vorbildlich: Es gab einen Kindergarten, eine Schule, zwei Kirchen, eine Ordensschwesterstation, zwei öffentliche Backhäuser, ein Gasthaus mit Casino sowie die Residenz des Direktors nebst Parkanlage.
Tafel erinnert an Sepp Herberger
Während auf dem Areal anfangs ausschließlich französisch gesprochen wurde, gab es um 1900 bereits einen großen Anteil an deutschem Personal. 1887 zogen auch Lina und Josef Herberger in die Siedlung: In der Rue de France 171 erblickte am 28. März 1897 der spätere Fußball-Bundestrainer Sepp Herberger das Licht der Welt – er führte die Nationalmannschaft 1954 zum WM-Titel. An ihn erinnert noch heute eine Plakette an der Hauswand des einzig erhaltenen Blocks der Kolonie.
Die Fabrikation von Spiegeln war damals in Deutschland noch unbekanntes Terrain. Deshalb fanden in der „Spiggl“ – so nennen Mannheimer die Fabrik – rund 400 französische Gastarbeiter ein Zuhause. Sie kamen mit ihren Familien überwiegend aus Lothringen, von der Glashütte Saint-Quirin. Die Tätigkeit der Neu-Mannheimer erregte Aufsehen: Zwar waren es die Arbeiter aus Frankreich, die den Spiegelsaal von Versailles bestückten. Doch die Luzenberger schmückten immerhin die Bayernschlösser Neuschwanstein und Herrenchiemsee von König Ludwig II.
Alle Zutaten vorhanden
Das Gelände am Altrhein hatten die Verantwortlichen damals mit Bedacht gewählt: Es gab hier Sand und Kalk sowie nahe gelegene Sodafabriken – alles Zutaten für die Spiegelherstellung. Weil durch den Rhein und die Eisenbahn auch eine gute Anbindung in alle Richtungen bestand, siedelten sich weitere Unternehmen in der Umgebung an, beispielsweise C. F. Boehringer & Soehne im Jahr 1872. Die Zellstoff-Fabrik Waldhof entstand 1884, und auch die Armaturenfabrik Bopp und Reuther, die 1872 in der Neckarstadt gegründet worden war, zog 1897 auf den Waldhof. 1896 gründeten mehrere Geschäftsleute zudem die Drais Fahrradwerke GmbH, und 1907 entstand Carl Benz & Cie. Im Windschatten der „Spiggl“ gründeten sich auch zahlreiche Vereine wie der TV 1877 Waldhof. Von den vielen Sportvereinen prägte aber vor allem der SV Waldhof, der 1907 aus einem Zusammenschluss der Fußballgesellschaft Ramelia und des FC Waldhof entstand, den Stadtteil. Im Nordosten des Geländes sind heute noch die Goggelrobber und die Harmonia zuhause, die ebenfalls aus der Arbeiterwohnsiedlung hervorgingen.
1906 begann die Spiegelfabrik damit, auch Gussglas herzustellen. Die Spiegelproduktion wurde 1930 gestoppt, seitdem setzte Saint Gobain ausschließlich auf Gussglas, konzentrierte zwischen 1959 und 1962 sogar die gesamte deutsche Gussglasherstellung in Mannheim, das lange als größte Gussglashütte in Europa galt.
Von der großen Kolonie ist heute eine einzige Häuserzeile erhalten. Zudem gibt es direkt gegenüber – zwischen Häuserzeile und Haupteingang der Firma – noch die ehemalige Werkskantine der Fabrik aus dem Jahr 1854: Fritz Hoffmann betreibt hier das Spiegelschlöss’l, ein Lokal, in dem sich alteingesessene Bürger und Fußballfans treffen. Der Gastraum ist bis unter die Decke liebevoll mit Andenken an den SV Waldhof geschmückt.
In den vergangenen Jahren dominierten negative Nachrichten aus der Fabrik: Das Personal schrumpfte, immer wieder gab es Gerüchte, dass das Werk bald dicht macht – zu schlecht seien die Zahlen, Investitionen habe es lange nicht gegeben. Am Mittwoch begann das letzte Kapitel des traditionsreichen Unternehmens: Saint Gobain kündigte an, die Fabrik mit derzeit 140 Beschäftigten spätestens Mitte 2021 zu schließen (wir berichteten im Wirtschaftsteil).
Die Spiegelfabrik Saint Gobain Glass
- Die Spiegelfabrik auf dem Luzenberg (Bezirk Waldhof) entstand 1853. 1858 ging sie in den Besitz der Manufaktur Saint Gobain über, 1936 entstand aus dem Zusammenschluss mit weiteren Hütten die Firma VEGLA. Seit 2000 heißt das Unternehmen Saint Gobain Glass GmbH.
- Die Produktion findet seit Jahren im mittleren Teil des Werks statt, die Außenbereiche liegen brach.
- Im Süden wurde vor Jahren bereits ein Teil des Geländes verkauft. Auf einem dieser Grundstücke fand am 14. Februar eine umfangreiche Rodung des Waldbestandes statt, die für Aufregung sorgte. Die Stadt Mannheim hat daraufhin vor drei Monaten einen Bebauungsplan auf den Weg gebracht, der die Firmenfläche und zwei bereits verkaufte Grundstücke umfasst.
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