Stadtbücherei

Lebendige „Bücher“ erzählen in Mannheim Erschütterndes aus ihrem Leben

Geschichten hören, ohne selbst zu lesen? Die Mannheimer Stadtbibliothek bietet ein neues Format an: Menschen erzählen ihre zum Teil erschütternden Geschichten - unter anderem geht es um häusliche Gewalt.

Von 
Katja Geiler
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Am Empfang der „Human Library“ dürfen sich die Besucher für ein Thema entscheiden und werden dann den jeweiligen „Büchern“ zugeteilt. © Katja Geiler

Mannheim. In der Stadtbibliothek warten am Samstag zehn ganz besondere Bücher auf die Besucherinnen und Besucher. Lebendige „Bücher“, die aus ihrem Leben erzählten, die „Human Library“. Die Leute, die den Part der Bücher übernehmen, haben viel erlebt und vertreten verschiedene Themen wie Migration, körperliche Beeinträchtigung oder Transsexualität. Die Besucher können sich am Empfang ein Thema auswählen und sich an einen bestimmten Tisch setzen, wo das „Buch“ wartet. Auf einen respektvollen Umgang wird Wert gelegt, gerade in einer Zeit, in der in den sozialen Medien oft ein roher Umgangston herrscht.

Idee aus Kopenhagen

„Die heutige Library ist ein Auftakt, dann entscheiden wir, wie es weitergeht. Wir möchten kontinuierlich Bücher und Lesende zusammenbringen“, sagt Thomas Kraus, der zusammen mit Projektleiterin Julia Kizhukandayil die Veranstaltung organisiert hat. „Die Idee kommt aus Kopenhagen, sie soll Vorurteile abbauen. Man kann Fragen stellen, die man sonst nie stellen würde.“ Um Leute zu gewinnen, hat das Team bei verschiedenen Kooperationspartnern angefragt. Am Tisch Nummer neun wartet Klaus Schirdewahn, Leiter der Gruppe „Gay & Grey“, eine Gruppe für schwule, junggebliebene Männer.

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„Ich bin Zeitzeuge der Verurteilung von Schwulen, als es den Paragrafen 175 noch gab.“ Schirdewahn kommt aus Ludwigshafen und ist Jahrgang 1947. Mit 17 Jahren, im Dezember 1964, hatte er einen 21-jährigen Partner - „er musste ein Jahr ins Gefängnis wegen Missbrauchs Jugendlicher“. Es sollte noch 30 lange Jahre dauern, bis Paragraf 175 abgeschafft wurde. Und Schirdewahn musste zwei Jahre lang eine Therapie machen, um „geheilt“ zu werden. „Ich habe dem Arzt geglaubt. Es war die Phase, in der man will, dass man normal ist, hetero.“ 1968 wollte er sich das beweisen und heiratete eine Frau, doch das Interesse für Männer ließ sich nicht verdrängen. Ein Versteckspiel begann, die Ehe war zum Scheitern verurteilt. Er begegnete im Laufe der Jahre viel Akzeptanz, aber auch Ablehnung, wie zum Beispiel Mobbing bei der Arbeit. Erst 2015, bei der Ausstellung „Vom anderen Ufer“, traute er sich in die Öffentlichkeit und ist seitdem aufklärerisch tätig. „Heute ist Deutschland gesetzlich gut aufgestellt, aber die Stimmung in der Bevölkerung ist nicht dem entsprechend. Es gibt Strömungen, die vieles zurückschrauben wollen.“

Rettung im Frauenhaus

Einen Tisch weiter erzählt Gloria Morena aus ihrem Leben und blickt dabei oft in fassungslose Gesichter. Ihr Thema ist häusliche Gewalt. „Morena“ ist ein erfundener Nachname, zum Schutz vor ihrem Ex-Mann. Morena (36) heiratete mit 18 Jahren und bekam ihren Sohn. Während der Schwangerschaft veränderte sich ihr Mann und wurde gewalttätig. „Er versuchte, mich vor meinem Kind schlecht zu machen.“ Irgendwann flüchtete sie ins Frauenhaus, die Rettung. „Als ich in einem Artikel las, dass jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland von ihrem Mann umgebracht wird, dachte ich, eine davon hätte ich sein können“, so Morena. „Ich habe mit einem Podcast angefangen, den können betroffene Frauen hören. Außerdem bin ich der Meinung, Gewalt vor dem Kind ist auch Gewalt am Kind. Das ist nicht strafbar, und ich setze mich dafür ein, dass sich das ändert.“

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