Ein strahlend heller Sommertag, Frauen in ärmellosen Blusen in Straßencafés, die Schlagschatten der Bäume fallen in die Auslagen der Läden auf den Planken, das Plätschern der Springbrunnen am Wasserturm. Es ist kurz nach Zwei am Mittag, Frank Pohle hätte eigentlich seinen freien Tag, aber der Straßenbahnfahrer hat die Schicht eines Kollegen auf der Linie 4 Käfertal-Oggersheim übernommen. Es ist heiß im Wagen, durch die gekippten Fenster wabert der Straßenlärm in den Zug. Pohle hat die Fahrt verlangsamt, er steuert gerade die Haltestelle Tattersall an - da bricht das Inferno los: Zuerst hört der 37-Jährige nur dieses malmende Kreischen der Ketten, die handgroße Brocken aus dem Asphalt reißen und unter sich zu Split zerdrücken - das und das Brüllen der Diesel-Motoren. Dann sieht er den Panzer, wie er beim Sexshop um die Ecke kommt, direkt auf seinen Zug zu. Es ist der 10. Juli 1982 - der Tag, den Pohle nie mehr vergessen wird.
Kreischende Ketten
"Es verfolgt mich", sagt Frank Pohle, die Stimme wird leise, die Sätze kommen ins Stocken, "immer wenn der Tag näher rückt, muss ich daran denken". Dann hört er wieder das Kreischen der mächtigen Antriebsketten, "es war ein M60 A1, der schwerste, den die Amerikaner damals hatten, mit den scharfen Granaten an Bord fast 70 Tonnen", Typenbezeichnungen, Maße, Gewichte, alles noch präsent, alles eingebrannt ins Gedächtnis, auf ewig. Fast ist es ihm, als sehe er die Bilder von damals vor sich, als müsse er alles noch einmal erleben. Die stinkende Rauchwolke, die aus dem Auspuff hervorstößt, als der Fahrer den stählernen Koloss mit einem mächtigen Ruck dann wieder in Bewegung setzt, die Militärpolizisten, die in die Sichtluke feuern, um die Amok-Fahrt zu stoppen. "Umsonst." Mit einem gewaltigen Satz nach vorne springt der M 60 auf den Schienen auf das Heck seiner Bahn zu. "Da stand eine große Uhr an der Ecke, da ist er gottseidank dagegen gerammt, das hat ihn ein wenig aufgehalten." Wertvolle Sekunden habe ihm das geschenkt, sagt der Straßenbahnfahrer. Und Frank Pohle nutzt sie.
"Ich bin nach hinten, ich hab gebrüllt, die Leute angetrieben, dass sie alle nach vorne sollen". 70 Menschen sitzen an diesem Samstagmittag in der Bahn, viele davon verdanken Pohle möglicherweise ihr Leben. "Kaum waren sie hinten raus, ist der Panzer mit voller Wucht auf uns gekracht", die Kanone zerreißt die Außenhaut des Zugs zuerst, Fenster zerspringen in tausend Splitter, dann bohrt sich der Bug des M60 wie ein stählerner Keil in die Bahn, zerdrückt Sitze und Haltestangen, zerfetzt Verkleidungen und hinterlässt eine meterlange klaffende Wunde an der linken Flanke der 4er. "Dann, nach einem kurzen Moment, hat er zurückgesetzt. Erst hab' ich gedacht, der rollt nochmal auf uns zu, aber er ist rückwärts weiter, Richtung Kurpfalzbrücke." Dort endet wenig später die Amok-Fahrt des 20-jährigen US-Soldaten. In einer letzten, verzweifelten Aktion lässt er, gegen den ein Militärgerichtsverfahren wegen Diebstahls einer Pistole läuft, den die Nachricht von der schweren Erkrankung des Bruders noch immer durchschüttelt und dessen Freundin ihn vor ein paar Tagen verlassen hat, den Panzer rückwärts in den Fluss rollen. Ein Sturz in den Tod.
Alle gerettet
Er bleibt das einzige Opfer seiner Tat, wie durch ein Wunder kommen Frank Pohles Fahrgäste mit dem Schrecken davon. "Feuerwehr und Rettungsdienste hatten schon mit mehreren Toten bei uns gerechnet." Die Umsicht des Fahrers hat die Menschen vor dem Schlimmsten bewahrt, selbst als der Panzer schon außer Sichtweite ist, lässt Pohle niemanden aussteigen: "Ich hab gedacht, dass alle so panisch sind und bestimmt einer in ein vorbeifahrendes Auto läuft." Stadt und Verkehrsbetriebe ehren später den tapferen Mann, der heute freimütig bekennt, eine Heidenangst gehabt zu haben.
30 Jahre sind seither ins Land gegangen - doch die Bilder der Vergangenheit, sie holen ihn an jedem 10. Juli wieder ein.
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