Mannheim. Die beiden Szenen, die das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen prägen, dauern jeweils nur einen Wimpernschlag lang. In Erinnerung wird nur eine davon bleiben - nicht die von Olga Carmona. Dabei hätte sie das mehr als verdient: Nach 29 Minuten trifft die Spielerin von Real Madrid ins lange Eck. Mehr Tore gibt es nicht. Spanien ist nach dem Sieg gegen England Weltmeister - zum ersten Mal. Hängen bleibt diese Szene aber nur bis zum Abpfiff.
Danach betritt Luis Rubiales den Rasen von Sydney. Genauer gesagt steht der Präsident des spanischen Verbandes auf dem Podium der Siegerehrung, wo er Carmona die Show stiehlt. Rubiales übergibt Medaillen. Herzt Spielerinnen. Umarmt sie. Jenni Hermoso küsst er. Auf den Mund. Mit beiden Händen drückt er ihren Kopf an sich heran. Später wird sie erklären, der Kuss habe ihr nicht gefallen. Die Äußerung wird vom Verband korrigiert, was wieder Kritik von Hermoso hervorruft. Der spanische Fußball steckt im großen Triumph zugleich in einer tiefen Krise.
Um den großen Moment gebracht
Die Empörung ist auch in Mannheim groß. Für Lena Trentl sei die Szene „auf mehreren Ebenen vollkommen unangebracht“ gewesen. Zum einen würden Bilder zeigen, dass Hermoso auf den Kuss weder vorbereitet noch mit ihm einverstanden gewesen sei. „Für mich fast noch schlimmer als diese indiskutable Grenzüberschreitung: Rubiales hat dem ganzen spanischen Team den wahrscheinlich schönsten Moment seiner Karriere genommen“, sagt Trentl, die die Damen des TSV Neckarau in der viertklassigen Oberliga trainiert. Wenn über das Finale gesprochen wird, gehe es nicht mehr um den „brillanten Ballbesitzfußball“ der Spanierinnen, „sondern um einen Mann, der sich 90 Minuten auf der VIP-Tribüne bedienen ließ und dann die Siegerehrung crashte“, kritisiert die Trainerin der besten Mannheimer Damenmannschaft.
„Schon bei den letzten Turnieren der Männer ist mir aufgestoßen, dass sich Funktionäre oder Sponsoren im Glanze solcher Ehrungen gerne selbst inszenieren“, sagt Trentl. „Der Moment sollte alleine den Sportlerinnen und Sportlern gehören.“ Bei der Weltmeisterschaft 2022 der Männer hatten der Emir von Katar und FIFA-Präsident Gianni Infantino für Kritik gesorgt, weil sie verhältnismäßig lange neben Lionel Messi standen. Der Emir legte dem Superstar gar einen landestypischen Umhang um, den Messi zur Siegerehrung über dem Trikot trug.
Hohe Dunkelziffer befürchtet
Auch Tanja Junger bezeichnet den Kuss als „No Go“. Die Mutter einer fußballspielenden Tochter trainiert Juniorinnen beim Polizei SV. Den „klaren Eingriff in die Privatsphäre“ Hermosos dürfe man nicht mit Emotionen begründen. „Das wäre ein Freibrief für alle.“ Es sei nicht nachvollziehbar, warum man für Anerkennung für Frauen und Mädchen kämpfe - um dann Eingriffe in die Selbstbestimmung mit Emotionen zu rechtfertigen.
„Als Verbandspräsident sollte ich mich trotz aller Emotionen im Griff haben“, sagt auch Michael Mattern, stellvertretender Vorsitzender des Fußballkreises und Abteilungsleiter für Frauen- und Mädchenfußball beim TSV Neckarau. Ein Kuss auf den Mund überschreite Grenzen. „Das darf nicht passieren.“
Aus Mannheim seien bislang keine derartigen Vorfälle bekannt, sagt Mattern. Sexuelle Belästigung und Übergriffe beschäftigen Kreis und Verband trotzdem. Der Deutsche Fußball-Bund, erklärt Mattern, habe alle 21 Landesverbände verpflichtet, Anlaufstellen für Betroffene einzurichten. Der Badische Fußballverband, dem der Kreis angehört, nennt eine Anlaufstelle für Kinderschutz und eine zum Thema Vielfalt. Zwar gebe es „sexistische Äußerungen“, vor allem gegenüber Schiedsrichterinnen, erklärt Sprecherin Annette Kaul. Konkrete Übergriffe seien aber nicht bekannt - weder aus Mannheim noch dem Rest des Verbands. „Leider ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer höher ist.“
Es gebe im Mädchen- und Jungenfußball „immer wieder“ Eingriffe in die Privatsphäre, beobachtet Junger. „Solange aber noch keine Straftat vorliegt, wird versucht, vieles herunterzuspielen und zu bagatellisieren.“ Sie fordert vor allem Vereine mit Jugendabteilungen auf, ein entsprechendes Schutzkonzept auszuarbeiten. „Alle müssen wissen, wie bei Grenzüberschreitungen zu handeln ist“, sagt Junger. „Jeder Verein muss schnell agieren können.“
Lars Andersson, Trainer einer Mädchenmannschaft beim VfR Mannheim, erklärt, Verbände würden Trainer und Funktionäre in der Ausbildung für das Thema sensibilisieren. Darauf weist auch der Badische Verband hin. Andersson selbst seien aber keine konkreten Vorfälle oder Beschwerden bekannt.
Kopfschütteln über Rummenigge
„Konkrete, körperliche Übergriffe“ seien auch Trentl noch nicht begegnet. „Was sexistische Kommentare angeht, müssen wir Fußballerinnen uns ein dickes Fell zulegen.“ Von verbalen Spitzen zur männlichen Überlegenheit im Sport bis zu Kommentaren über Bewegungsabläufe sei jede Spielerin „regelmäßig mit sexistischen Motiven konfrontiert“, sagt Trentl, die betont, dass Kommentare nicht nur von Männern kämen. „Auch männliche Spieler sind vor despektierlichen Kommentaren nicht gefeit.“
Unterdessen hat auch Karl-Heinz Rummenigge für Kontroversen gesorgt. Der Aufsichtsrat von Bayern München sagte über Rubiales: „Wenn man Weltmeister wird, ist man emotional. Und was er da gemacht hat, ist - sorry, mit Verlaub - absolut okay.“ Trentl kann das nicht nachvollziehen. Es sei „erstaunlich, dass sich Rummenigge als Mann dazu aufschwingt, zu beurteilen, welche Art ungefragter körperlicher Annäherung für Frauen ,absolut okay’“ sei. „Die einzig relevante Einschätzung der Situation ist die von Hermoso selbst.“ Auch Andersson moniert Kommentare, „die eher zu mehr Kopfschütteln geführt haben als ohnehin vorhanden war“.
Rubiales lehnt einen Rücktritt ab. „Hier geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern um eine soziale Hinrichtung“, erklärte er am Freitag. Die FIFA hat ihn für 90 Tage suspendiert. 81 Fußballerinnen, darunter alle Weltmeisterinnen, haben erklärt, nicht mehr für Spanien zu spielen, solange er im Amt sei. Die Staatsanwaltschaft kündigte am Montag eine Voruntersuchung wegen mutmaßlicher sexueller Nötigung an.
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