Mannheim. Geht es um Prostitution, werden wir alle zu Voyeuren. Während Öffentlichkeit und auch (fiktionale) Medien diesen Blick auf Prostitution haben, bleiben verborgene Parallelwelten oft unsichtbar. Genau wie damit verbundene Belastungen. Eine Ausstellung will das nun ändern. Sie will Frauen in der Armuts- und Zwangsprostitution in Mannheim eine Stimme geben. Und ein Gesicht. Sie will ihre Lebenswelt und ihren Alltag in der Stadt in den Fokus stellen. Und einen Diskurs darüber anregen.
Denn die Frauen leiden auch darunter, dass sie ihre Tätigkeit verbergen, ja sprichwörtlich ihr Gesicht verbergen, müssen. Daraus entstand bei der Beratungsstelle Amalie gemeinsam mit dem Fotograf Hyp Yerlikaya die Idee, eine Fotoausstellung zu gestalten. Sie wird nun in Zusammenarbeit mit den Reiss-Engelhorn-Museen (REM) gezeigt.
„Prostitution klebt an dir, du kannst es nicht abwaschen, die Erinnerungen bleiben ein Leben lang.“
„Die Frauen tragen auf den Bildern weiße Gesichtsmasken. Zum Schutz, da sie durch ihre Tätigkeit in der Gesellschaft extrem stigmatisiert sind“, erklärt Julia Wege aus dem Beirat von Amalie. „Wir konnten in allen möglichen Prostitutionsunterkünften in Mannheim Shootings machen. Waren an all diesen Orten. Die Bilder machen so das Chaos der Frauen und der Milieus sichtbar“, sagt sie.
„Das Schönste ist, wenn sie dir das Geld geben. Dann weißt du, du siehst sie nie wieder.“
Und es gibt Dinge, die man in den Fotos oft erst auf den zweiten Blick erkennt. So etwa bei einem Bild im Wald. Eine Frau befindet sich zwischen dichten Bäumen. Ganz allein. Kuratorin Stephanie Herrmann von dem REM erklärt: „Oft lassen die Freier die Frauen ohne Bezahlung im Wald zurück.“ Es sei die blanke Angst und Hilflosigkeit, die Frauen erlebten, wenn sie mit einem Freier ins Auto stiegen. Zu den Bildern sind in der Ausstellung Zitate der Frauen arrangiert. Sie stammen aus Interviews mit ihnen. Und in genau diesen kommen diese Gefühle ans Licht. „So geben wir den Frauen wortwörtlich eine Stimme“, beschreibt Kuratorin Herrmann. Schonungslos geben auch die Zitate Einblick, machen tägliche Machtgefälle deutlich: „Der Freier bestimmt, was passiert“, steht dort etwa.
„Mein größter Wunsch ist, dass meine beiden Kinder wieder bei mir wohnen können.“
„Es ging bei den Interviews und den Shootings auch viel um das Thema Gewalt. Die Frauen haben uns gebeten: ,Bitte sagt die Wahrheit in der Ausstellung und zeigt, wie wir leben und war hier passiert. Es gibt so viele schlimme Dinge, die niemals zur Sprache gebracht werden‘“, sagt Julia Wege.
Trotz des drastischen Blicks und der Erzählungen der Frauen bleiben die Bilder auf besondere Art intim. Die Fotografien wahren zugleich Anonymität und Würde der Frauen. Gerade dadurch wirken sie noch eindringlicher. In all der Nähe, die die Bildsprache erzeugt, bekommt man als Betrachtender auch oft sehr beklemmende Gefühle.
Ausstellung vom 14. November 2021 bis zum 20. Februar 2022
- Die Mannheimer Beratungsstelle Amalie präsentiert in Zusammenarbeit mit den Reiss-Engelhorn-Museen vom 14. November 2021bis 20. Februar 2022 die Sonderausstellung „gesichtslos – Frauen in der Prostitution.“ Sie ist im Museum Weltkulturen D5 in Mannheim zu sehen. Wer sich an der Kasse meldet, bekommt ein Gratis-Ausstellungsticket.
- Zur Ausstellung erscheint ein Begleitband im Nünnerich-Asmus Verlag zum Preis von 25 Euro,erhältlich an den Museumskassen.
- Die Beratungsstelle Amalie des Diakonischen Werks Mannheim bietet seit ihrer Gründung 2013 Frauen in der Prostitution umfassende Hilfe, ein ganzheitliches Beratungskonzept und Begleitung in belasteten Lebenssituationen.
- Gesellschaftliches Sichtbarmachen und Anregen eines öffentlichen Diskurses über die oft prekären Lebens- und Arbeitswelten von Prostituierten in Deutschland sind Anliegen dieses Projektes.
- Fotograf Hyp Yerlikaya hat sie von 2019 bis 2021 begleitet. Es entstanden 1800 Fotos, 40 sind zu sehen. Zu Wort kommen Frauen, die in der Prostitution arbeiten oder ausgestiegen sind.
Dass die Bild/Text-Komposition so wirken kann, liegt insbesonders an den Fotografien von Hyp Yerlikaya. Durch seine Linse entsteht ein Blick, der nicht voyeuristisch ist. Sondern authentisch. Und das, obwohl die Bilder inszeniert sind. „Die Frauen waren die Regisseurinnen der Shootings“, erklärt Wege. Sie entschieden, „was muss gezeigt werden, und wo sollen wir als Team und auch als Gesellschaft mehr drauf schauen“. In den Szenen, die Yerlikaya ablichtet, wirken die Frauen mal zerbrechlich, mal auf eine besondere Art stark. Dabei spielt der Mannheimer Fotograf mit dem Kontrast: Von verwaschenen Konturen bis zu symmetrischem Bildaufbau, von Rauschhaftem bis zu Realem, von Nähe bis hin zu Distanz ist alles dabei. Immer in Schwarzweiß, immer in Licht und Schatten.
„Es war gar nicht meine Entscheidung. Ich hatte einen Freund und er hat gesagt, dass er mich liebt, heiraten will und mit mir zusammenleben möchte. Er hat mir erzählt, wir gehen gemeinsam nach Deutschland, wir arbeiten, wir kaufen uns ein Haus oder eine Wohnung und dann können wir ruhig leben.“
Die Fotos zeigen verschiedenste Szenen aus dem Leben der Frauen. Prostituierte, die ihre Kinder an der Hand halten. Die am Spielautomat ihre Sucht ausleben. Die in der Mittagspause über die Freier und deren Verhalten reden. Die sich waschen, die duschen. Julia Wege sagt: „Das Thema Waschzwang begegnet uns in der Beratung oft.“ Auf den Fotos sieht man auch: Damen, die in der Beratungsstelle zusammensitzen und „endlich mal sie selbst sein können“. Andere Bilder zeigen Kokain in der Nahaufnahme. „Vielen Freiern gibt es einen Extrakick, die Frauen unter Drogen zu setzen“, beschreibt Wege. Wieder andere Fotografien zeigen Frauen, die am illegalen Straßenstrich stehen. „Es gibt Frauen, die sich hier in Mannheim für vier oder fünf Euro anbieten“, sagt Wege.
„An einsamen Orten muss man immer Angst haben, dass der Freier dich ohne Geld stehen lässt.“
Das oft kursierende Vorurteil, Frauen machten das freiwillig, hätten Spaß oder verdienten viel Geld, kann diesen Bildern – und der Realität – nicht standhalten. „Wir reden hier über Armuts- und Zwangsprostitution, nicht über Sexarbeit“, macht Kuratorin Herrmann deutlich. Der ökonomische Druck sei groß, erklärt Wege. Ohne Krankenversicherung und Sprachkenntnisse seien die Frauen oft hilflos und der Ausstieg umso schwerer. Vom verdienten Geld bleibe am Ende fast nichts. Das Geld lande woanders. „Es war allgemein ein sehr bewegender Prozess, die Shootings zu begleiten“, beschreibt Wege weiter. „Da intime Szenen gezeigt wurden, sagten wir von Anfang an: ,Ihr könnt jederzeit abbrechen, falls ihr nicht mehr wollt, ihr könnt die Richtung bestimmen.‘“
„Der Freier bestimmt, was passiert.“
Doch dann verlief alles gegenteilig, berichtet sie: Die Frauen waren begeistert von der künstlerischen Idee hinter dem Fotoprojekt. „Sie hatten wahnsinnig viele Ideen – und es hat sich auch rumgesprochen. Am Ende war es sogar so, dass wir vom ehrenamtlichen Team diejenigen waren, die sie fast schon bremsen mussten.“ „Endlich wird unsere Perspektive gezeigt“ – das sei der Tenor der Frauen, die sich unglaublich gefreut hätten, gewesen.
„Wenn der Gast gegangen ist, bin ich mit meinen Nerven am Ende.“
Und es hat auch zum Austausch zwischen den Prostituierten geführt: „Wir konnten beobachten, dass die Frauen untereinander das Gespräch suchten.“ Und dass sie sich über ihre mitunter traumatischen Erfahrungen ausgetauscht hätten. Dass sie sagten: „Wie ging es denn dir damit?“ oder „Das ist mir auch passiert. Und ja, das war nicht in Ordnung, dass das passiert ist“, so Wege. Ihr Team konnte dabei auch eine Art heilende Wirkung feststellen. „Und jetzt vor der Veröffentlichung fiebern alle Frauen mit und sind sogar furchtbar aufgeregt im positiven Sinne“, beschreibt Wege.
„Viele Männer möchten Sex ohne Kondom. Viele Frauen stimmen zu, um mehr Geld zu verdienen. Das Problem ist eine Schwangerschaft und dann die Abtreibung. Viele Frauen haben zwei, drei Kinder in ihren Heimatländern. Sie arbeiten extra, um den Kindern Geld schicken zu können. Kommt es dann zu einem nicht gewünschten Kind, wird es abgetrieben. Eigentlich darf man danach 3-4 Wochen keinen Sex haben. Die meisten Frauen gehen trotzdem direkt wieder arbeiten.“
„Bei den Shootings war es auch wichtig, wirklich nur die Frauen in den Fokus zu stellen, wir haben nur ein Bild, auf dem ein Statist in Rückenansicht zu sehen ist, der einen Freier spielt. Er steht Pars pro Toto“, erklärt Kuratorin Herrmann. „Die Träume und die Hoffnungen der Frauen wollten wir besonders beleuchten“, so Wege. Sie weiß: Fast alle wollen aussteigen. Doch fast keine schafft es. Zu groß sind die Hürden, zu groß das Stigma, wenn es dann beim Vorstellungsgespräch beim neuen Arbeitgeber heißt: „Und wer war Ihr vorheriger Arbeitgeber?“ Dabei würden viele Frauen gerne hier richtig ankommen.
„Mit jedem Mann erlebst Du den gleichen Horror. Und nach jedem Mal schaust du wieder in den Spiegel und denkst: ‚Was mache ich hier?’ Doch in ein paar Minuten oder Stunden kommt schon der Nächste.“
Manche hätten es dank Amalie geschafft. Andere kämpften noch, sagt Wege: „Für die Shootings waren wir auch an Orten, an denen sie hier gerne sind. Im Blumenladen, am Neckarufer, in der Kirche. Zu letzterem Ort sagte uns eine Mitwirkende: ,Ich verstehe zwar kein Wort von der Predigt, aber ich fühle mich sicher. Ich bin traumatisiert. Aber hier finde ich Halt‘“, erzählt Wege.
„Als Kind wollte ich zuerst Polizistin, dann Anwältin werden. Das habe ich leider nicht geschafft.“
Wilfried Rosendahl, Generaldirektor der REM, betont, dass man als großes Haus diesmal ein Gegenwartsthema abbilde. Dahinter stehe der gesellschaftliche Auftrag und das Ziel, Diskurse anzustoßen. „Wir sehen uns als Haus in der Mitte der Gesellschaft – und wollen auch alle Themen abbilden“, so Rosendahl. Und schon bei der Pressekonferenz geht es dann um politisch diskutierte Modelle wie etwa das „Nordische Modell“: Ein Sexkaufverbot das diejenigen kriminalisiert, die die Leistung kaufen, nicht die, die sie anbieten. Michael Graf, Direktor des Diakonischen Werks sagt: „Es müssen erst die sozialpolitischen Instrumente nachgebessert werden“, dass andere Modelle eine Chance hätten.
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