Soziales

Eröffnung der Vesperkirche in Mannheim - ein kleines Wunder

In der Mannheimer Citykirche Konkordien hat die Vesperkirche eröffnet. Eine Botschaft lautete: Noch nie lebten so viele Menschen in Deutschland am Existenzminimum. Viele Menschen kommen aber nicht nur wegen des Essens

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
Lesedauer: 
Geschmorte Schweinebäckchen mit Linsen und Kartoffeln sind zur Eröffnung serviert worden – garniert mit freundlichen Worten. © Michael Ruffler

Mannheim. Jene, die seit Sonntag vier Wochen lang in der Citykirche Konkordien bewirtet werden, haben vermutlich längst aufgegeben, auf Wunder zu hoffen. Hingegen gleicht einem solchen, dass die Vesperkirche ins 26. Jahr geht, dass sie der Pandemie getrotzt hat, dass erneut die Organisation für täglich um die 500 Gäste und jeweils 60 Ehrenamtliche steht. „Mutwillig Wunder wagen“ lautet diesmal das Motto. Warum eine Kampagne gegen Armut alles andere als wundersam, sondern bitter notwendig ist, erläutert Pfarrerin Ilka Sobottke in der Eröffnungspredigt.

Ihre Botschaft: Wunder können wunderbar vielfältig sein. Wenn beispielsweise Menschen selbst in Armut aufrecht stünden. Aber leider sei es bislang ein Wunder statt selbstverständlich, wenn Wohlhabende den unlängst vom Staat überwiesenen Energiezuschuss an jene überwiesen, die ihn tatsächlich bräuchten. Noch nie hätten in Deutschland so viele Menschen am Existenzminimum gelebt, klagt Pfarrerin Sobottke, die das neue Bürgergeld als „Farce“ sieht – weil es nicht einmal die Inflationen ausgleiche.

„Hier treffe ich Menschen“

Bevor Ehrenamtliche geschmorte Schweinebäckchen mit Linsen, Kartoffeln und freundlichen Worten servieren, holt Dekan Ralph Hartmann von der Krippe Licht, um mit einer leuchtenden Laterne die 26. Vesperkirche zu eröffnen. Die 200 Plätze sind schnell belegt. Michael gehört seit 2007 zu den Stammgästen. „Schon damals war ich arbeitslos.“ Der 70-Jährige kommt jeden Tag – nicht nur wegen des Essens: „Hier treffe ich Menschen.“ Ilse neben ihm nickt zustimmend. Die 78-Jährige schätzt ebenfalls, „rauszukommen, andere zu sehen“. Brigitte ist ohne ihren Freund da. Der habe „nach einem Vorfall“ Hausverbot. Aus welchem Grund, möchte sie nicht sagen. Auch sie zieht es in die Kirche, „weil man sich hier mit anderen unterhalten kann“.

Mehr zum Thema

Soziales

Lauschen an der "Flüsterwand": Einstimmung auf die Mannheimer Vesperkirche

Veröffentlicht
Von
Waltraud Kirsch-Mayer
Mehr erfahren
Mannheim

Warmes für Herz und Magen - Vesperkirchen starten

Veröffentlicht
Von
dpa/lsw
Mehr erfahren

So manche blocken Fragen ab, andere sind in ihrem Redeschwall nicht zu stoppen – wie jener Gast, der über so ziemlich alles und jeden, insbesondere über Wladimir Putin, unflätig schimpft und kleine Zettel vollkritzelt. Dass es psychische Erkrankungen sind, die oft aus der Normalität herauskatapultierten – auch das offenbart die Vesperkirche.

Viele Ehrenamtliche dabei

Schicksale gehen verschlungene Pfade: Romina berichtet, dass sie der Liebe wegen aus Rumänien nach Deutschland kam. Seit ihr Mann gestorben ist, kämpft die Seniorin mit Einsamkeit. Die Vesperkirche bedeutet für sie neben einem gedeckten Tisch „Geselligkeit und nette Gespräche“. Inzwischen arbeitet sie im Diakonie-Punkt als Ehrenamtliche – ihre Art des Nehmens und Gebens.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt.

Es gibt nicht nur Stammgäste, auch erfahrene Ehrenamtliche. Beispielsweise Peter Müller, seit zwölf Jahren dabei. Der Pensionär lässt sich gern als „Abräumer“ einteilen – „beim Geschirrabräumen bin ich mein eigener Herr mit eigenem Tempo“. Unter der Kirchenkuppel, wenn auch nicht ganz oben, haben Brötchen schmierende Damen ihr Quartier. Birgit Stegmann bilanziert kurz nach zehn Uhr erleichtert, dass knapp 400 der Imbisstüten mit zusätzlichem Obst und einer Süßigkeit, beispielsweise Schoko-Nikoläuse, vorbereitet sind.

Regine Borggrefe, mehr als zehn Jahre im Team, hat diesmal ihren Ehemann, den jüngst emeritierten Kardiologie-Professor und Klinikum-Chefarzt, motiviert, das Ärzteteam zu verstärken. Die Vesperkirche bietet nämlich auch Medizinservice und Sozialberatung.

To-Go-Angebote sind beliebt

Inge Schmidt weiß nur zu gut, dass es manchmal anders kommt, als man denkt – schließlich engagiert sie sich bei der Kampagne von Anfang an. Nicht nur sie ist nervös. Grund: Erstmals liefert ein Caterer aus Heilbronn das Essen – weil das Mannheimer Thomas-Heim umgebaut wird. Die Speisecontainer treffen zur Erleichterung aller pünktlich ein, und auch die Abläufe mit den ungewohnten Wärmesystemen klappen schnell. Allerdings ist schon nach gut einer Stunde das Linsengemüse weg, der Vorrat an Schweinebäckle weitgehend aufgegessen. Denn diesmal ist die vegetarische Variante wenig gefragt. Für solche Fälle hat Inge Schmidt stets Vorräte: In der Mikrowelle erwärmte Frikadellen reichern auf Wunsch die noch üppig vorhandene Erbsensuppe an.

425 Essen, davon 70 zum Mitnehmen, werden ausgegeben, dazu 411 Vesperbeutel. Eigentlich sind die „To go“-Pakete während der Pandemie eingeführt worden. Weil so manche Gäste lieber zu Hause oder an ihrem Stammplatz essen, ist das Angebot beibehalten worden. In der „To go“-Schlange erzählt eine Frau, sie habe daheim eine kranke Mutter, die sie nicht lange alleine lassen wolle. Und ein Mann, der seine Habseligkeiten mit sich schleppt, erklärt, warum er Gedränge meidet. Aber sollte es demnächst richtig kalt werden: „Dann ess‘ ich auch in der Kirche – an einem Tisch ganz vorn mit Platz für mein Gepäck.“

Freie Autorin

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen