Amokfahrt

Die tragische Geschichte eines Überlebenden der Autoattacke in Mannheim

Durch die Autoattacke in der Rhenaniastraße im Juni 2022 hat Michael Gangnus fast alles verloren. Seinen Job, seine Wohnung - und ein selbstbestimmtes Leben. Über einen Mann, der nicht aufgibt

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Agnes Polewka
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Michael Gangnus musste in ein Pflegeheim ziehen. Doch perspektivisch wünscht er sich wieder ein Zuhause. © A. Polewka

Mannheim. Am 12. Juni 2022 steigt Michael Gangnus am frühen Abend auf sein Fahrrad. Es ist ein lauer Sommerabend. Er markiert das Ende eines sonnigen Tages, den der 57-Jährige im Garten und bei einer Freundin auf der Rheinau verbracht hat. Er radelt nach Hause, Richtung Lindenhof. Auf dieser Strecke, die er so gut kennt. Auf seinem Rad, mit dem er überall hinfährt, seit 20 Jahren.

Gangnus denkt an den nächsten Tag, an die Menschen, die er am Montag als Altenpfleger besuchen wird. Dann sieht er in der Neckarauer Rhenaniastraße ein Auto auf sich zurasen. „Ich dachte nur: verdammt! Und wenige Sekunden später flog ich auf die Windschutzscheibe, sah mein Fahrrad an mir vorbei fliegen“, sagt der 57-Jährige neun Monate später. Michael Gangnus sitzt im Rollstuhl, im Zimmer eines Mannheimer Pflegeheims. Und erinnert sich an den Tag, der alles verändert hat.

Da ist jemand ungebremst in mich hineingefahren
Michael Gangnus Überlebender der Autoattacke

Gangnus wird auf den Asphalt geschleudert. Was er damals nicht weiß: Der Fahrer des Fahrzeugs hat ihn wahrscheinlich absichtlich gerammt. In den nächsten Minuten wird er drei weitere Menschen anfahren. Zwei von ihnen wird er totfahren.

Gangnus tastet nach seinem Handy, doch es funktioniert nicht mehr. Seine Gedanken rasen. Neben ihm die Bahngleise. Und die Schnellstraße. „Ich dachte nur: Egal, wie laut ich schreie, es wird mich niemand hören.“ Der 57-Jährige ahnt da noch nicht, wie schwer er verletzt ist. Seine rechte Schulter ist zertrümmert, sein linker Unterschenkel fast abgetrennt. Seine Rippen, zwei Lendenwirbel, der linke Ellbogen sind gebrochen, mehrere Organe verletzt.

Überlebender kann seit der Attacke nicht mehr arbeiten gehen

Gangnus verliert das Bewusstsein, kommt wieder zu sich, als ein Rettungssanitäter neben seinem Körper kniet. Er sagt ihm, dass er Diabetiker ist und zwei Herzinfarkte hatte. Dann wird alles schwarz. Erst zwei Wochen später wacht Michael Gangnus wieder auf. In einem anderen Leben.

Michael Gangnus (r.) vor der Tat – beim Festival in Wacken. © Privat

Außer seinem Schädel und der Halswirbelsäule gibt es kaum ein Körperteil, das nicht verletzt wurde. Gangnus kann nicht mehr arbeiten. Er muss aus seiner Wohnung ausziehen, weil sie nicht barrierefrei ist. Und nach und nach begreift er, was am 12. Juni passiert ist: „Da ist jemand ungebremst in mich hinein gefahren. Danach hat er weitere Menschen brutal umgefahren.“

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Der mutmaßliche Täter muss sich seit Anfang März vor dem Mannheimer Landgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 37-Jährigen Totschlag und versuchten Totschlag vor, fordert eine dauerhafte Unterbringung in einer Psychiatrie. Denn der Beschuldigte soll seit seinem 15. Lebensjahr an paranoider Schizophrenie leiden. Während eines Schubes soll er zunächst seinen Vater im vorderpfälzischen Ellerstadt erstochen haben. Danach fuhr er laut Staatsanwaltschaft nach Mannheim, rammte zunächst Michael Gangnus, dann ein älteres Ehepaar - beide starben. Und einen weiteren Mann. Er hörte das Auto kommen und flüchtete sich hinter eine Baustellenabsperrung. Er wurde leicht verletzt.

Spenden für Michael Gangnus

Wer den Überlebenden der Amokfahrt in der Rhenaniastraße unterstützen möchte, kann eine Spende auf sein Privatkonto überweisen:

Michael Gangnus

DE76 6705 0505 0038 5040 45 

Weil der Prozess um die Frage kreist, ob der mutmaßliche Täter schuldfähig war oder nicht, findet das Verfahren bis zum Urteil nicht-öffentlich statt. Und so erfährt auch kaum jemand, wie es Gangnus ergangen ist. Und den anderen Betroffenen: dem zweiten Überlebenden und der Frau, die ihre Eltern verloren hat.

Ohne Hilfe der Familie würde Alltag nicht funktionieren

Am 10. März hat Michael Gangnus dem Beschuldigten im Gerichtssaal zum ersten Mal gegenüber gesessen, seinen Blick gesucht. „Ich hasse ihn nicht“, sagt der 57-Jährige. „Ich kann einen kranken Menschen nicht hassen. Aber ich hasse das, was er getan hat.“

Michael Gangnus ist jemand, der zuerst immer an andere denkt, sagen die, die ihn gut kennen. In seiner schwersten Zeit gibt es viele Menschen, die auch an ihn denken. Mit ihm Zeit verbringen. Und mit ihm lachen. Die seinen Sarkasmus lieben. Und die Ironie, die aus seinen Sätzen trieft.

Auf dem Tisch in seinem Zimmer im Pflegeheim steht ein Bild, das den 57-Jährigen mit seinem Bruder zeigt. Beim Metal-Festival in Wacken. Ausgelassen und frei. Born to Be Wild.

Und doch fühlt sich Gangnus allein gelassen mit seinem Schicksal. Mit den Folgen der Autoattacke. Er ist ein fast Vergessener. „Ohne meine Schwester wäre ich in den vergangenen Monaten aufgeschmissen gewesen“, sagt er und fährt sich mit den Fingern über den Bart. Seine Schwester sitzt ihm gegenüber. Seit Monaten kümmert sie sich um den Papierkram ihres Bruders, macht Behördengänge für ihn. Über den Weißen Ring hat sie Kontakt zu dem Pflegeheim aufgenommen, in dem Michael Gangnus jetzt wohnt.

Kosten für das Pflegeheim sind zu teuer

Michael Gangnus hat seinen linken Unterschenkel verloren. Er muss jetzt lernen, mit einer Prothese zu laufen. Bei der Rentenversicherung hat er dafür eine Reha beantragt. An der Schulter steht ein weiterer Eingriff an, die 13. OP. Damit er seinen rechten Arm endlich wieder bewegen kann. „Manchmal denke ich morgens, ich bleibe einfach liegen“, sagt er. Weil eine Schwere in sein Leben gekommen ist, die nicht zu ihm passt. Doch dann steht er trotzdem auf. Für sich. Weil es das nicht gewesen sein kann.

Ich hasse ihn nicht. Aber ich hasse das, was er getan hat
Michael Gangnus Überlebender der Autoattacke

Doch die Unsicherheit bleibt. Darüber, wie es gesundheitlich weitergeht. Und darüber, wie er in Zukunft leben wird. Fast 3000 Euro monatlich kostet das Zimmer im Pflegeheim. Geld, das Gagnus nicht hat. Und Geld, von dem er nicht weiß, wie er es aufbringen soll. „Ich wünsche mir, wieder ein Zuhause zu haben“, sagt der 57-Jährige. Eine kleine barrierefreie Wohnung. Ein Ein-Zimmer-Apartment würde ihm schon genügen, sagt er. Mit seinen persönlichen Sachen und Möbeln, die im Keller einer Freundin lagern. Und er hätte gern wieder ein selbstbestimmtes Leben. Eins, in dem er wieder zum Eishockey in die Arena fährt, zu „seinen“ Adlern. Und eins, in dem er wieder in seinem Schrebergarten in Neckarau den Grill anheizt. In dem er Metal hört. Ein wildes Leben. Ausgelassen und frei.

Redaktion

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