Mannheim. Merve Uslus Großvater Ismet Ceylan und sein älterer Bruder Hikmet Ceylan sind zerstritten. Ismet ging als Gastarbeiter in den 1960er Jahren nach Deutschland, Hikmet wollte das auch – doch sein Vater erlaubte es ihm nicht. Das komplizierte Verhältnis zwischen ihrem Großvater mütterlicherseits und dessen Bruder, genauso wie das ihres Großvaters väterlicherseits und seines in der Türkei gebliebenen Bruders, beleuchtet die Mannheimerin Merve Uslu in einem Dokumentarfilm: „Kismet“ lautet der Titel – auf Deutsch übersetzt „Schicksal“.
Uslu hat den knapp halbstündigen Film im Sommer 2019 in der Süd-Türkei, in den Heimatorten ihrer Großväter, gedreht. Die Idee, einen Film über ihre Familie zu verwirklichen, kam ihr durch ein Uniseminar – bis zum vergangenen Jahr studierte die 25-Jährige Ethnologie und Soziologie in Heidelberg. Der Fokus auf die Beziehung zwischen Ausgewanderten und Daheimgebliebenen habe sich dann während des Aufenthalts entwickelt, erzählt Uslu im Gespräch mit der Redaktion. Auch ihre Bachelorarbeit ist aus dem Familienbesuch heraus entstanden.
Leidenschaft für Gesang und Rap
Merve Uslu sprüht vor Energie und Tatendrang. Der Filmdreh hat sie selbstbewusster werden lassen: „Ich wollte im Studium nie über mein Deutschtürkisch-Sein berichten, ich wollte nicht, dass alle mich als Repräsentantin sehen.“ Mittlerweile sei ihr klargeworden, dass sie sich zuerst mit ihrer eigenen Geschichte befassen musste. „Ich will etwas bewegen, und die Geschichte meiner Großeltern festzuhalten, war der erste Schritt.“ Sie ist froh, dass sie dies im Sommer vor zwei Jahren, vor der Pandemie mit ihren Reisebeschränkungen, geschafft hat – insbesondere, weil ihr Opa väterlicherseits, Mustafa Uslu, im April dieses Jahres verstorben ist.
Kismet: Vom Ethnologieseminar zum Film
- Merve Uslu ist 25 Jahre alt und lebt in Neuhermsheim.
- Ihre Großväter stammen aus der südlichen Türkei: aus der Kreisstadt Yayladagi und dem heute verlassenen Dorf Mecit.
- Der Film Kismet ist aus einem Ethnologieseminar über das Thema Erinnerungen heraus entstanden. Der deutsch-türkische YouTube-Kanal Medyatikde hat Uslu dabei unterstützt.
- Den Film Kismet und das Musikvideo „Ich sag’ Bye“ mit Merve Uslus Schwester Sena und dem Berliner Belal gibt es auf YouTube.
Merve Uslu arbeitet zurzeit als Integrationshelferin in der Stadtverwaltung Ludwigshafen. Auch dort dreht sie Videos, für die Online-Plattform Alvivi. Seit sie ihr Studium im Oktober beendet hat, ist sie zudem auf Sozialen Medien, allen voran Tiktok, aktiver. Unter anderem auf dieser Plattform geht sie ihrer zweiten Leidenschaft nach, dem Gesang. Ein Video von ihr, in dem sie eine Augenbinde trägt und dabei einen türkischen Song rappt, ging viral: Sie wollte damit zeigen, dass sie nicht abliest. Mittlerweile hat Uslu auf der jungen Plattform knapp 50 000 Follower.
Anfänge im Gesangsworkshop
Zur Musik gekommen ist Merve Uslu vor acht Jahren, nachdem sie im Jugendhaus Herzogenried an einem Gesangsworkshop teilgenommen hat. Im Jugendhaus hat sie auch begonnen, selbst Songs zu schreiben: zuerst auf Englisch, später dann auf Türkisch, mittlerweile auf Deutsch und Türkisch. „Ich schreibe die Songtexte in der Sprache, in der ich sie fühle“, erzählt Uslu, „aber Türkisch ist mehr die Sprache meines Herzens.“ Ihre Songs handeln von Gastarbeitermigration, etwa von der Geschichte ihrer Großeltern. Viele ihrer Lieder sind emotional, erzählt sie. „Vernunft ist zwar wichtig, aber ich lasse mich oft von meinem Herzen und dem Bauchgefühl leiten – das will ich in meinen Songs zeigen.“
Weiterer Film geplant
Von ihrem Bauchgefühl hat Uslu sich auch Anfang des Jahres leiten lassen, als sie gemeinsam mit ihrer Schwester Sena und dem 23-jährigen Belal aus Berlin das Stück „Ich sag’ Bye“ geschrieben, produziert und ein Video dazu gedreht hat. Der Rapper leidet an Muskeldystrophie und sitzt im Rollstuhl. „Sein größter Traum war es, einen Song aufzunehmen – aber er kann nicht in ein reguläres Studio.“ Angesteckt von Belals Energie haben die Schwestern kurzerhand beschlossen, Belal zu helfen. In Mannheim wurde das Lied letztlich fertig produziert.
Zum nächsten Wintersemester will Merve Uslu sich auf einen Masterstudienplatz in Berlin bewerben. Bis dahin fokussiert sie sich auf ihre Musik. „Ich bin dankbar, dass meine Großeltern als Gastarbeiter hergekommen sind und ich sagen kann, ich arbeite jetzt fünf Monate lang kreativ. Für mich ist das ein Privileg.“ Bevor es nach Berlin geht, hat die Mannheimerin aber noch einen weiteren Plan: Sie will wieder in die Türkei reisen, die zerstrittenen Brüder mit dem Film konfrontieren. Und sie will eine weitere Geschichte erzählen – die ihrer Großmütter.
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