Mannheim. Sie hat als Lehrmädchen gehört, wie sich Lion Wohlgemuth 1938 aus dem Fenster stürzte. „Ich weiß noch, wie das ganze Personal an die Fenster gerannt ist und geschrien hat“, so Henriette Lucchesi. Sie sollte aber auf keinen Fall aus dem Fenster schauen. Jetzt, mit 99 Jahren, ist sie aber gerne dabei, wenn für ihren Großonkel Lion Wohlgemuth ein Stolperstein verlegt wird – als Erinnerung an einen großzügigen Kaufmann und ein engagiertes Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr, das als Jude brutal ausgegrenzt und in den Selbstmord getrieben wurde. „Er hat es verdient“, sagt sie zu der Ehrung.
„Wir geben den Opfern der nationalsozialistischen Barbarei damit ihren Namen, ihre Würde und Identität zurück“, begrüßte Oberbürgermeister Peter Kurz die Verlegung von insgesamt 13 Stolpersteinen. „Wir erinnern dort an sie, wo sie gewohnt haben“, ergänzte Rolf Schönbrod vom Arbeitskreis Stolpersteine. Neben der Würdigung der einzelnen Person gehe es zugleich um eine Mahnung, „dass so etwas nie wieder vorkommen darf“, so Schönbrod.
Das Projekt „Stolpersteine“
Die Stolpersteine gehen auf den Künstler Gunter Demnig zurück, der damit an Opfer des Nationalsozialismus – Juden, Sinti und Roma, Widerstandskämpfer, Zwangssterilisierte und viele mehr – erinnert.
Sie gelten als das weltweit größte dezentrale Mahnmal. Bisher sind in 27 europäischen Ländern 75 000 der kleinen Steine mit den auf Messingblech gravierte Namen sowie Lebensdaten und -orten verlegt.
Seit 2007 werden Stolpersteine auch in Mannheim verlegt. Initiiert wurde das von einem Arbeitskreis unter Federführung der Naturfreunde, dem aber viele weitere Organisationen und Personen angehören. Das Marchivum unterstützt die Initiative. Bisher wurden in Mannheim 191 Steine verlegt. Die Finanzierung erfolgt über Spenden.
Aktuell verlegt wurden nun 13 Stolpersteine: in der Lameystraße 7a für Julius Josef Kahn, in der Mollstraße 32 für Albert und Irma Platz, in der Hugo-Wolf-Straße 10 für Max, Recha, Kurt und Alfred Heppenheimer, in A 3, 6 für Joseph Wertheim und Leo Lewisohn, in C 1,9 für Ernst, Fanny und Hans Barsdorf, und in G 3,20 für Lion Wohlgemuth.
Die Feierstunde im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde in F 3 begleiteten Markus Weber und Pianist Dieter Scheithe als „Die 2 von der Klangstelle“ mit Liedern aus den 1920er/ 30er Jahren. pwr
Zur Verlegung von einem der 13 neuen Stolpersteine in G 3 kam Kurz ganz bewusst persönlich dazu – dem für Lion Wohlgemuth. Angeregt hatte diese Würdigung das Mannheimer Feuerwehrarchiv. Diese Gruppe von Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr und Pensionären der Berufsfeuerwehr arbeitet schon lange ehrenamtlich sehr intensiv daran, die NS-Zeit der Feuerwehr aufzuarbeiten – ein Anliegen, das der Deutsche Feuerwehrverband auch bundesweit maßgeblich unterstützt.
Schließlich habe man in der nationalsozialistischen Diktatur eine „Pervertierung des Feuerwehrgedankens erlebt“, lobte Kurz die Initiative, die auch noch in eine Ausstellung und ein Buch münden soll. So sei die Feuerwehr nur daneben gestanden, als die Nationalsozialisten in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 die Synagogen anzündeten – ohne zu helfen.
Ausgrenzung und Entrechtung
Wenige Monate zuvor musste Lion Wohlgemuth aus der Freiwilligen Feuerwehr austreten, nur weil er Jude war. „Dabei war das Teil seiner Identität“, fasste Kurz den Lebenslauf des Mannes zusammen, der „in besonderer Weise mit der Stadtgeschichte verbunden“ sei.
Lion Wohlgemuth kam, wie Michael Müller vom Feuerwehrarchiv recherchierte, am 14. Mai 1871 zur Welt. 1897 heiratete er Melanie Gutmann, die mit ihrer Schwester Sophie das Putzmacherhandwerk erlernt und das „Hut- und Putzwarengeschäft Geschwister Gutmann“ gegründet hatte. Wohlgemuth führte nach der Heirat das Hutgeschäft weiter und baute es aus – zur Firma Samt und Seide mit über 500 Beschäftigten und Sitz in N 7. Im Zuge der Arisierung übernahm Carl Heinrich Vetter Firma und und Grundstück, „aber nicht zu einem fairen Preis, wie wir heute wissen“, so Kurz.
Als Unternehmer sei Wohlgemuth „mehrfacher Millionär und großzügiger Spender“ gewesen, so Michael Müller, für karitative Zwecke und besonders für die Feuerwehr, „der stets einsprang, wenn bei der Freiwilligen Feuerwehr etwas finanziell fehlte“. Sein Eintrittsdatum steht nicht ganz fest – wohl zwischen 1890 und 1894. Noch erhalten ist aber im Archiv der Feuerwehr die Medaille, die er 1914 für 20 Jahre treue Dienste erhielt, „man hat aber versucht, seinen Namen herauszukratzen“, bedauerte Müller.
Bis 1920 leistete Wohlgemuth Einsatzdienst und nahm am Theater-Wachdienst teil, danach hatte er weiter zahlreiche Ämter inne wie Obmann oder Adjutant, ab 1931 war er Ehrenadjutant. Und immer wieder stiftete er. Die Nationalsozialisten duldeten jedoch ab 1933 keine Juden bei der Feuerwehr. Mehrfach wurde ihm der Austritt nahegelegt, doch Wohlgemuth weigerte sich.
1938 wurde der Druck zu groß, am 14. Oktober 1938 unterschrieb er seine Austrittserklärung und gab seine Uniform zurück. In dem Zusammenhang soll er geäußert haben „Jetzt habe ich nichts mehr, was mich auf dieser Welt hält“. „Diese Ausgrenzung, Entrechtung, Demütigung hat er als leidenschaftlicher Patriot und Feuerwehrmann nicht mehr ertragen“, so Michael Müller – denn am Tag danach, am 15. Oktober, stürzte er sich aus dem Fenster.
„Was muss in so einem Menschen vorgegangen sein“, fragte Rita Althausen, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, „er war völlig verzweifelt“. Ehrungen wie die Stolpersteine seien „richtig und wichtig“, nicht nur als Erinnerung an die ihrer Würde beraubten Menschen, „sondern auch „um das Bewusstsein zu schärfen“, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe.
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