Mannheim. Durch Meditieren zur persönlichen Gotteserfahrung – es ist wohl dieses einfache Versprechen eines Yoga-Meisters, das Wolfgang Schmidt die Tür öffnet in die Welt der christlichen Sekten, Heilsversprechen und Erleuchtungsfantasien. Am Ende wird sich der Familienvater sogar so weit in dieser Wahnwelt verlieren, dass er davon überzeugt ist: Meine Frau ist vom Teufel besessen.
„Manchmal wache ich nachts auf vom leisen Murmeln neben mir. Es ist mein eigener Ehemann, der da die Hände gegen die Decke streckt und betet“, schildert Julia Schmidt. Bis heute kann die Mannheimerin kaum glauben, was da mit ihrem eigenen Partner seit neun Jahren passiert. Durch einen Freund, der selbst Mitglied in einer Sekte ist, verwandelt sich Wolfgang Schmidt, vom studierten Naturwissenschaftler, Manager und Machotyp in einen tiefgläubigen Anhänger, dem vor Rührung manchmal die Tränen kommen, wenn er einer Predigt lauscht. Und der felsenfest davon überzeugt ist, sich mit Gott unterhalten zu können.
Nach Außen hin wahren die Schmidts selbst bis heute den Schein einer glücklichen Familie, und die 50-Jährige setzt alles daran, ihren Mann nicht noch weiter in die Arme der Sektenführer zu treiben.
Allerdings kennt nur der engste Freundeskreis der Schmidts den Sinneswandel von Wolfgang Schmidt – und das ist übrigens auch nicht der echte Name der Familie. Denn Julia Schmidt, die eben in Wahrheit anders heißt, möchte anonym bleiben, auch weil der religiöse Fanatismus ihres Mannes die Ehe sowie die gemeinsamen Kinder stark belastet. So stark, dass sich die dreifache Mutter nun Hilfe holen will und den Austausch über eine Selbsthilfegruppe sucht.
Weil es dafür aber bislang keine Gruppe gibt, will sie selbst beim Mannheimer Gesundheitstreffpunkt eine Selbsthilfegruppe für Angehörige gründen, denen es ähnlich ergeht. „Ich kämpfe seit Jahren, hab’ die Kraft langsam nicht mehr. Ich sehne mich nach Gleichgesinnten, die nachvollziehen können, was ich durchmache, aber kenne bislang niemanden“, gesteht sie im Gespräch. Denn nach Außen hin wahren die Schmidts selbst bis heute den Schein einer glücklichen Familie, und die 50-Jährige setzt alles daran, ihren Mann nicht noch weiter in die Arme der Sektenführer zu treiben.
Feindbild gegen andere Gläubige
Wie aber kann es sein, dass ein intelligenter und rational denkender Mensch wie Wolfgang Schmidt sich plötzlich in einen tiefreligiösen Anhänger verwandelt? Mitschuld trägt dabei wohl auch ein alter Freund, an den sich die 50-Jährige am Anfang Rat suchend wendet. Ein großer Fehler, sagt sie heute. Was sie da noch nicht weiß: Es ist genau dieser Freund, der den Wahn ihres Mannes weiter schürt, ihn später immer tiefer in eine weitere Glaubensgemeinschaft zieht.
Austausch und gegenseitige Unterstützung
- Der Gesundheitstreffpunkt Mannheim unterstützt das ehrenamtliche Engagement in den derzeit 240 in Mannheim aktiven Selbsthilfegruppen. Bei der Patientenberatung Rhein-Neckar beim Gesundheitstreffpunkt erhalten Patientinnen und Patienten medizinische Beratung und Beratung zur Patientenverfügung
- Jährlich profitieren mehr als 4000 Menschen durch Beratung und Information der beiden Beratungsstellen. Die Beratungen sind auch in türkischer und englischer Sprache möglich
- Der Mannheimer Gesundheitstreffpunkt unterstützt Betroffene wie Schmidt bei der Gründung einer neuen Selbsthilfegruppe. Alle Gruppen sowie diejenigen, die Teilnehmende zur Gründung suchen, gibt es unter www.gesundheitstreffpunkt-mannheim.de
- Hier sucht auch Julia Schmidt zum Austausch Angehörige von Menschen mit übersteigerter, wahnhafter Religiosität oder Menschen, die in ebensolchen Glaubensgemeinschaften Mitglied sind. Interessierte können sich per Mail direkt beim Gesundheitstreffpunkt melden unter gesundheitstreffpunkt-mannheim@t-online.de.
Das Paradoxe daran: Julia Schmidt ist selbst gläubige Katholikin, hat ihre Kinder im christlichen Glauben erzogen. Aber selbst auf den christlichen Freundeskreis schaut Wolfgang Schmidt mittlerweile herab. Für ihn sind die christlichen Kirchengemeinden vom Teufel unterwandert. Damit folgt der 58-Jährige der Lehre einer Glaubensgemeinschaft. Was dort die Anhänger im Gottesdienst zu hören bekommen, weiß Julia Schmidt genau – aus Neugierde hat sie selbst mit ihrer Tochter einmal daran teilgenommen. „Wir waren beide nur noch geschockt. Da wird ein richtiges Feindbild aufgebaut gegen alle, die anders glauben“, erinnert sich die Christin.
Massentaufe im Schwimmbad
Denn die extremen Ansichten, die dort herrschen, gehen für Schmidt weit über das Christentum hinaus: Während des Gottesdienstes bezeichnet der Prediger seine Anhänger als heilige Gebetsarmee, die sich im Krieg befinde. Auf Youtube sind solche Reden frei zugänglich, sprechen die Prediger von Hexen, von Okkultismus und dämonischen Kräften, die andere Gläubige vom wahren Weg abhalten.
Es ist dann auch die Teilnahme an einem mehrtägigen Seminar dieser Sekte, die Wolfgang Schmidt indoktriniert. Das Ziel: Menschen für ihre göttliche Berufung auszurüsten. Heimlich bucht sich der Familienvater einen Platz, lässt sich dort in einem Schwimmbad mit anderen taufen. „Danach war Jesus für ihn kein Prophet mehr, sondern der Größte“, sagt Schmidt. Zurück kommt ein völlig Fremder, der sich nach 30 Jahren gemeinsamer Ehe von seiner Frau trennen will. Seine Begründung: Sie glaube nicht so, wie er glaubt – und sei obendrein noch vom Teufel besessen. „Da war der blanke Hass auf mich in seinen Augen. Ich war so geschockt, dass ich in Tränen ausgebrochen bin. Habe auf ihn eingeredet und gesagt: Denk doch mal drüber nach! Ich habe immer zu dir gehalten, wach auf!“, erinnert sich Schmidt.
Geldspenden belasten Konto
Zwar schafft sie es, den völlig veränderten 58-Jährigen davon abzubringen. Der aber liest von da an nur noch spirituelle Bücher, möchte immer wieder Geld spenden, um so seine Seele zu retten. Das geht so weit, dass sich Julia Schmidt gezwungen sieht, heimlich Geld beiseite zu schaffen, alles vom gemeinsamen Konto für die Kinder oder Urlaube auszugeben. Obwohl der Familienvater seine Kinder liebt, merkt er nicht, wie sehr sein absurdes Verhalten auch zunehmend die Teenager mitnimmt. Die beiden wollen ihren Vater sogar vom Familienalltag ausschließen. Nur mit viel Überzeugung gelingt es der Mutter, sie davon abzubringen, die Familie zusammenzuhalten.
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Ob sie nie daran gedacht hat, sich zu trennen? „Wenn man gemeinsame Kinder hat, bleibt man immer verbunden. Ich würde ihn damit direkt in die Arme der Sekte drängen“, ist sich die 50-Jährige sicher.
Auch der Versuch, ihren Ehemann zur Paartherapie zu überreden, scheitert. Denn er ist überzeugt, geistig bei bester Gesundheit zu sein. Dabei verschlimmert sich auch sein gesundheitlicher Zustand zunehmend: Weil der erfolgreiche Manager überzeugt ist, Gott halte seine schützende Hand über ihn, verweigert der Akademiker seine Medikamente, riskiert sogar einen Herzinfarkt. Mehrere Tage versucht der 58-Jährige, nur von Luft und Liebe zu leben, magert sichtlich ab. Freunde und Verwandte erkennen den einstigen Machomann kaum wieder, der zunehmend apathisch und traurig wirkt.
Momente der Schwäche
In ihrer Verzweiflung wendet sich Schmidt sogar an eine Sektenberatung. Aber auch dort erhält sie nur den Tipp: Mit dem Betroffenen in Kontakt bleiben. Das setzt die Frau stoisch um: Ganz bewusst schafft sie schöne Zeiten mit der Familie, organisiert einen gemeinsamen Urlaub, geht regelmäßig mit ihrem Mann joggen. Und trifft mit ihm eine Vereinbarung: Er darf machen, was er will. Solange er nicht versucht, sie selbst oder die Kinder zu bekehren.
Aber da gibt es auch schwache Momente: Bei der Antwort auf die Frage, ob sie sich nun mit diesem neuen Leben arrangiert hat, bricht ihre Stimme. „Nein, das habe ich nicht. Aber ich versuche es. Ich möchte diese Einstellung bekommen, dass ich sagen kann: Lass ihn. Und wenn ich nicht mehr kann, muss ich weitersehen. Solange versuche ich, nur das Gute zu sehen und den Rest zu ignorieren.“ Trotzdem ist sich die 50-Jährige sicher: Würde sie ihren Ehemann heute vor die Wahl stellen: „Dann würde er sich gegen die Familie und für die Sekte entscheiden.“
Hinweis: Verstand und wissenschaftliche Erkenntnis – darauf bezieht sich die Gemeinschaft der Freireligiösen Gemeinde in Mannheim. Die Gemeinde versteht sich selbst als humanistische Weltanschauungsgemeinschaft, geprägt von der Idee der Selbstbestimmung in religiösen und philosophischen Fragen. Im Artikel „Mein Mann, ein religiöser Fanatiker?“ handelt es sich deshalb auch nicht, wie fälschlicherweise beschrieben, um einen Anhänger einer solchen freireligiösen Glaubensgemeinschaft.
Als eingetragene Körperschaft des öffentlichen Rechts ist die Freireligiöse Gemeinde ein geistiges Kind der Freiheitsideen, die 1848/49, besonders in Baden und in der Pfalz, zu revolutionären Aufständen gegen das reaktionäre Regime von Fürsten im Bund mit den Kirchen führten. „Die meisten von uns sind Atheistinnen oder Agnostiker, einige auch Pantheisten, die in allem Existierenden eine göttliche Einheit sehen, jedoch keinen persönlichen Gott kennen“, erklärt Gisela Wittemann, Vorsitzende der Mannheimer Gemeinde. Die Gemeinde betreibt das Karl-Weiß-Seniorenpflegeheim im Forum Franklin, Träger ist der Freireligiöse Wohlfahrtsverband Baden. Hier gibt es neben seniorengerechten Service-Wohnungen auch eine drei-gruppige Kindereinrichtung.
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