Gesellschaft

ARD-Dokudrama über Mannheimer Gerichtsreporter Ernst Michel

Vor 80 Jahren begannen die Nürnberger Prozesse. Der Mannheimer Ernst Michel war der jüngste Gerichtsreporter – und der einzige Holocaust-Überlebende unter den Journalisten. Die ARD hat ihm nun einen Film gewidmet.

Von 
Agnes Polewka
Lesedauer: 
Jonathan Berlin als Ernst Michel (rechts) im Journalistenraum des Nürnberger Justizpalastes. © NDR/Márton Kállai

Nürnberg. Der Nachmittag beginnt mit einer Umarmung vor dem Justizpalast in Nürnberg. Karen Michel Daniels breitet die Arme aus und sagt: „Hi Daddy“. Schauspieler Jonathan Berlin lacht, er könnte Karen Michel Daniels Sohn sein. Und doch spielte er in den vergangenen Monaten ihren Vater, den gebürtigen Mannheimer Ernst Michel.

Für das ARD-Dokudrama schlüpfte Berlin in die Rolle des 22-jährigen Ernst Michel, der die Nürnberger Prozesse im November 1945 im wohl bekanntesten Gerichtssaal der Welt begleitete –als jüngster Gerichtsreporter und als einziger Holocaust-Überlebender unter den Journalisten.

Im historischen Saal 600 ist an diesem Novembernachmittag eine Filmvorführung geplant, für die vielen Menschen, die an dem Dokudrama mitgearbeitet haben sowie für Gäste der beteiligten Rundfunkanstalten und Produktionsfirmen. Eine große Leinwand ist vor der Richterbank aufgespannt, die seit fünf Jahren nicht mehr genutzt wird. Der Raum mit der Holzvertäfelung und den Zierelementen dient inzwischen ausschließlich musealen Zwecken.

Ernst Michel bei einem Schulbesuch in Mannheim 2007. © Marchivum

Karen Michel Daniels sucht ihre Schwester Lauren Michel Shachar. Sie durchquert einmal den historischen Gerichtssaal und findet sie an einem der Stehtische im Foyer, im Gespräch mit Drehbuchautor Dirk Eisfeld. Daniels ist für die Filmvorführung aus den USA angereist, Shachar aus Israel. Sechs Jahre lang haben die Schwestern einander nicht gesehen. Zuerst kam die Pandemie, dann der Nahost-Krieg. „Und dann treffen wir uns hier wieder, an diesem Ort“, sagt Daniels und schüttelt den Kopf.

Lebensumspannende Bedeutung der Nürnberger Prozesse

Shachar und Daniels wuchsen in den USA mit Fotos von Orten auf, die sie nicht kannten und lange nicht besucht haben: Sie zeigten die Richard-Wagner-Straße in der Schwetzinger Vorstadt in Mannheim, wo Ernst Michel als Kind mit seiner Familie lebte – und den Saal 600 im Nürnberger Justizpalast.

Ernst Michel berichtet von den Nürnberger Prozessen. © Familie Michel

Um zu verstehen, welche lebensumspannende Bedeutung die Berichterstattung über diese Prozesse für Ernst Michel hatte, muss man etwas ausholen. Ernst Michel wurde am 1. Juli 1923 in Mannheim als Sohn des Zigarettenfabrikanten Otto Michel und seiner Frau Frieda geboren. Fünf Jahre später kam seine Schwester Lotte zur Welt. Er besuchte die Pestalozzischule, spielte Fußball. Bewunderte seinen Vater, liebte seine Mutter. Als Kind hatte Ernst Michel einen festen Platz in der Welt, so hat er es später seinen Kindern erzählt. Doch dann änderte sich alles.

Michel, das Kind einer jüdischen Mannheimer Familie, durfte nicht mehr in die Schule, und auch nicht mehr zum Fußball – da war er gerade einmal 13 Jahre alt. Nichtjüdische Freunde sprachen von einem Tag auf den anderen nicht mehr mit ihm.

Zunächst arbeitete der Junge in einer Kartonagenfabrik in der Region. Als die jüdischen Besitzer ihn nicht weiterbeschäftigen konnten, schlug der Vater ihm vor, einen Kalligrafie-Kurs zu besuchen. Keiner von ihnen ahnte damals, dass diese Entscheidung Ernst Michel später das Leben retten würde.

Die Familie versuchte vergeblich in die USA auszuwandern, nur Ernst Michels Schwester Lotte gelang mit einem Kindertransport die Flucht nach Frankreich. 1939 wurde Ernst Michel von der Gestapo zur Zwangsarbeit abgeholt. Seine Eltern und seine Großmutter sollte er nie wieder sehen.

Eine Szene aus dem Dokudrama: Lauren Michel Shahar im historischen Gerichtssaal. Auf die Anklagebank haben die Filmemacher die historische Aufnahme montiert, aufwändig nachkoloriert ist darauf Hermann Göring zu sehen. © NDR/Márton Kállai

Die vier folgenden Jahre verbrachte er in verschiedenen Arbeitslagern, im Februar 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert. Einen Monat nach seiner Ankunft traf ihn der Gewehrkolben eines SS-Manns am Kopf, die Wunde entzündete sich und Michel landete im Häftlingskrankenbau. Dort fiel seine schöne Handschrift auf. Ernst Michel wurde Schreiber, er dokumentierte das Sterben. Und das rettete sein Leben.

Unter dem SS-Lagerarzt Josef Mengele, dessen menschenverachtenden Experimente in die Geschichte eingingen, arbeitete Ernst Michel als Krankenpfleger. Er transportierte Leichen ab und begleitete Frauen zu Mengeles Elektroschock-Versuchen. Die meisten von ihnen überlebten diese nicht.

1945 gelang ihm auf einem der Todesmärsche die Flucht. Ernst Michel schlug sich durch, er fand Arbeit auf einem Bauernhof. Dann kam die Befreiung und Ernst Michel kehrte zurück nach Mannheim. Doch dort war niemand mehr.

Ernst Michels Eltern waren 1942 in Auschwitz ermordet worden, seine Großmutter starb in Gurs. Seine Schwester Lotte überlebte den Krieg versteckt in Frankreich, später zog sie nach Israel. Ernst Michel erhielt eine Stelle bei der U.S. Army und wurde so Korrespondent bei der Deutschen Allgemeinen Nachrichtenagentur (DANA), für die er schließlich nach Nürnberg reiste.

An dieser Stelle seines Lebens setzt das ARD-Dokudrama „Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“ ein. Dokumentation und fiktive Szenen sind miteinander verwoben. Dazwischen finden sich Interview-Sequenzen mit Ernst Michel, der 2016 starb, seiner Tochter Lauren Michel Shachar und dem Sohn der polnischen Widerstandskämpferin und Holocaust-Überlebenden Seweryna Smaglewska, die als Zeugin vor Gericht aussagte.

Karen Michel Daniels (l.) und Lauren Michel Shachar, die Töchter von Ernst Michel, im historischen Gerichtssaal 600. © Agnes Polewka

Der Film erzählt anhand der Geschichte dieser beiden jungen Menschen den Gang der Nürnberger Prozesse. Immer wieder sind auch historische Szenen aus Gerichtssaal 600 zu sehen, eindrucksvoll nachkoloriert. In Farbe sitzen da NS-Funktionäre wie Hermann Göring und Rudolf Heß, mal feixend, mal schlafend.

„Das Weltgericht hat begonnen“, schrieb Ernst Michel über einen seiner Artikel. Tag für Tag saß er im Gerichtssaal, dokumentierte diesen historischen Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, der als Geburtsstunde des Völkerstrafrechts gilt. Er unterschrieb seine Texte stets auch mit seiner Häftlingsnummer 104995. Einige Zeitungen veröffentlichten sie, andere nicht. Michels Artikel wurden zigfach gedruckt und gelesen – auch von Hermann Göring, dem wichtigsten Mann nach Hitler. Und so kam es, dass Göring Michel um ein Treffen bat.

Ernst Michel verweigerte Hermann Göring den Handschlag

„Er hat die Geschichte immer wieder erzählt, sie hat ihn zeitlebens beschäftigt“, sagt Lauren Michel Shachar. Es ist eine der Schlüsselszenen des Films: In seiner Gefängniszelle streckt Göring Michel die Hand zur Begrüßung entgegen – und dieser flüchtet. Ernst Michel sagt in „Nürnberg 45“, er habe diesen Schritt nie bereut. Der Eindruck von Karen Michel Daniels ist ein anderer: „Ich hatte allerdings schon den Eindruck, dass er damit gehadert hat.“

Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen

  • Nürnberg 45 - Im Angesicht des Bösen“ läuft am Sonntag, 09.11.2025, 21:45 Uhr, im Ersten und kann in der ARD-Mediathek gestreamt werden.
  • Der Cast: Jonathan Berlin spielt Ernst Michel und Katharina Stark ist Seweryna Szmaglewska. Francis Fulton-Smith verkörpert Hermann Göring und Wotan Wilke Möhring dessen Anwalt Otto Stahmer. Franz Dinda spielt Willy Brandt, der für skandinavische Medien über die Prozesse berichtete.
  • Ergänzt werden die Spielszenen durch Originalaufnahmen der Nürnberger Prozesse sowie durch ein Interview mit Ernst Michel vom 22. Apri 2005. Seine Tochter Lauren Shachar erzählt von ihrem inzwischen verstorbenen Vater. Jacek Wisniewski gibt Eindrücke in das Leben seiner inzwischen verstorbenen Mutter Seweryna Szmaglewska.
  • Das Dokudrama ist als ARD-Gemeinschaftsproduktion mit Zeitsprung Pictures GmbH und Spiegel TV unter Federführung von NDR und BR entstanden. red

Tochter eines Holocaust-Überlebenden zu sein, habe sie geprägt und geformt, sagt Daniels. Ihr Vater habe im Gegensatz zu vielen anderen nie Schuld empfunden, weil er überlebt habe. Das Konzept habe er nie verstanden. „Aber ich fühle die Schuld, als ob sie eine Generation übersprungen hätte“, sagt Daniels. Einen Tag vor der Filmvorführung war sie gemeinsam mit ihrer Schwester zum ersten Mal im Gerichtssaal 600. Sie zitterte, da waren so viele Gefühle – und Gedanken. An den jungen Mann, der ihr Vater gewesen war. An das Leid, das ihm und so viele anderen widerfuhr.

„Ich glaube, in Nürnberg begann mein Vater, Frieden zu schließen“

Und doch verbinden die Schwestern mit Nürnberg etwas Positives. Im Film sind Interview-Szenen mit Lauren Michel Shachar im Nürnberger Gerichtssaal zu sehen. Zunächst habe das Filmteam sie gefragt, ob sie bereit wäre, in Auschwitz zu drehen. Sie hätte nicht abgelehnt, aber als der Vorschlag kam, die Dreharbeiten nach Nürnberg zu verlegen, habe sie aufgeatmet. „Ich glaube, in Nürnberg begann mein Vater, Frieden zu schließen, nach vorne zu schauen“, sagt Shachar. Auch wenn es ihn schier zerriss, den Menschen gegenüberzusitzen, die für den Mord an so vielen Menschen, an seiner Familie, seinen Freunden verantwortlich waren. Das hat er später in Interviews erzählt.

Mehr zum Thema

Zeitreise

Georg Friedrich Schlatter: Der Pfarrer, der für die Demokratie ins Gefängnis ging

Veröffentlicht
Von
Hans-Jürgen Emmerich
Mehr erfahren
Justiz

Prozess um Amokfahrt in Mannheim: Dritter Prozesstag kreist um erstes Todesopfer

Veröffentlicht
Von
Agnes Polewka
Mehr erfahren
Zeitreise

Checkpoint Charlie: Einst Grenze, heute Symbol der Freiheit

Veröffentlicht
Von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren

Ihr Vater habe zeitlebens alle seine Artikel über die Nürnberger Prozesse aufbewahrt. Das gilt auch für die Armbinde, die er im Konzentrationslager tragen musste. Sie hing gerahmt in seinem Haus. Ernst Michel schämte sich nie für das, was ihm widerfahren war. Und manchmal, wenn ihn ein Kind fragte, was er da auf seinem Unterarm habe, sagte er: „meine Telefonnummer“. Daniels und Shachar lachen.

Im Juli 1946, drei Monate vor dem Ende der Nürnberger Prozesse, emigrierte Ernst Michel in die USA. „Ich habe mich oft gefragt, warum er nicht bis zum Ende blieb. Ich denke, er wollte einfach sein Leben leben, neu anfangen, nicht länger warten“, sagt Shachar.

„Du hast meinem Vater Gerechtigkeit widerfahren lassen“

In den USA arbeitete er zunächst als Schriftsetzer bei einer Zeitung und dann bei der „United Jewish Appeal“ (UJA), schnell stieg er innerhalb dieser Organisation auf, die sich für die Förderung jüdischen Lebens überall auf der Welt einsetzt. In den USA änderte er seinen Namen in Ernest.

Lauren Michel Shachar kann sich daran erinnern, dass die Familie Mannheim besuchte, als sie ein Kind war. Relativ bald habe der Vater damals aber wieder abreisen wollen. 2007 kehrte Ernst Michel noch einmal nach Mannheim zurück, zum Stadtjubiläum. Er besuchte alte Orte und traf neue Menschen. Bei einem Besuch in der Pestalozzischule sprach er mit Schülern - 71 Jahre, nachdem er die Schule selbst verlassen musste. Damals sagte er, er habe lange überlegen müssen, ob er nach Mannheim zurückkehren wolle, doch er sei überzeugt, das Richtige getan zu haben.

Ihr Vater habe seinen Frieden mit der Stadt gemacht, sagt Shachar. Mit dem ehemaligen Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) und anderen Menschen, denen er 2007 begegnete, habe er lange Kontakt gehalten. 2010 besuchte Kurz Michel in New York.

Nach anderthalb Stunden endet die Filmvorführung im musealen Gerichtssaal, ein Filmgespräch soll den Abend abrunden. Karen Michel Daniels und Lauren Michel Shachar nehmen auf dem Podium Platz. Und dann wendet sich Daniels an Schauspieler Jonathan Berlin. „You did my father justice“, sagt sie. „Du hast meinem Vater Gerechtigkeit widerfahren lassen.“

Redaktion

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke