Mannheim. Enorm knappes Höschen, Netzstrümpfe, frivol-verruchte Lieder – Sängerin Susan Horn steht für die verrückte, vergnügliche Zeit der 1920er Jahre. Aber es gibt halt auch Armut, Massenarbeitslosigkeit, brutale politische Auseinandersetzungen, woran ihr Pianist Daniel Pandl und die Diva das Publikum immer mal wieder erinnern. Die 1920er Jahre – sie sind eben wie Tag und Nacht. „Tag und Nacht – Leben in den Goldenen Zwanzingern“ hat daher das Marchivum seine neue Ausstellung betitelt, die das Duo mit Ausschnitten aus seinem „Schatzkistl“-Programm „Fräulein Susi's Singvergnügen“ eröffnete.
Der Friedrich-Walter-Saal im Dachgeschoss des Ochsenpferchbunkers reichte dafür nicht. In gleich zwei weitere Räume musste das Marchivum den Abend live übertragen. Das Marchivum will mit der Ausstellung zeigen, dass die 1920er Jahre eben „sehr viel mehr als nur eine Zwischenkriegszeit“ waren, so Marchivum-Direktor Harald Stockert, sondern „einen Eigenwert als Epoche“ habe.
Die Ausstellung
Zeitraum: Die Ausstellung ist bis 11. Mai im Marchivum im Ochsenpferchbunker zu sehen.
Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 20 Uhr. Montags ist die Ausstellung geschlossen.
Eintritt: Der Eintritt ist frei.
Begleitprogramm: Es gibt ein großes Vortrags- und Begleitprogramm, das kostenfrei ist und im Internet unter www.marchivum.de oder im Halbjahres-Progammheft aufgelistet wird. pwr
Möglich gemacht hat das Projekt, mit dem sich das Marchivum an der großen Veranstaltungsreihe anlässlich des Jubiläums der Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ in der Kunsthalle 1925 beteiligt, unter anderem der Freundeskreis Marchivum. „Ohne bürgerschaftliche Unterstützung könnten wir so etwas nicht mehr auf die Beine stellen“, dankte Stockert.
„Eine großartige Leistung“, gratulierte Kulturbürgermeister Thorsten Riehle dem Marchivum zu der Ausstellung. Zugleich würdigte er das Engagement vom Marchivum wie auch von anderen Kultureinrichtungen, parallel zum Jahrhundertjubiläum der Ausstellung in der Kunsthalle das Thema der 1920er Jahre aus verschiedenen Richtungen zu betrachten. Durch diese Zusammenarbeit könne man ganz verschiedene Menschen ansprechen, daher werde man solche Kooperationen „weiter vorantreiben“ müssen, so Riehle.
Kulturelle Blüte und große Massenarbeitslosigkeit
Dabei zeige das Marchivum auf lebendige Art und Weise, welche große Bedeutung die 1920er Jahre gerade für die Entwicklung Mannheims gehabt hätten, so der Bürgermeister. Auf der einen Seite stehe etwa der Fortschritt durch den Bau des Großkraftwerks und neue Wohnsiedlungen, das rege kulturelle Leben sowie die „Modernität und Leichtigkeit“, wie sie etwa im spektakulären Mannheimer „Lichterfest“ zum Ausdruck gekommen sei. Aber es habe eben auch soziale Verwerfungen und heftige politische Auseinandersetzungen gegeben. Zwar wolle er nicht zu starke Parallelen zwischen der Weimarer Republik und heute ziehen, so der Bürgermeister. „Aber die Demokratie ist immer in Gefahr, um die muss man immer Angst haben und sich täglich dafür einsetzen“, mahnte Riehle.
Der schleichende Verlust der Demokratie – er ist in der mit vielen Filmen, Bildern und Tondokumenten angereicherten Ausstellung spürbar, auch wenn sie zunächst ganz andere Schwerpunkte setzt. Projektleiterin Anja Gillen sowie das Kuratorenteam aus Angelika Dreißigacker, Doreen Kelimes, Christoph Popp, Hannah Serfas, Sebastian Steinert und Karen Strobel haben sich auf die Jahre 1924 bis 1929 konzentriert. Dabei ist es ihnen, auch dank der grafischen Ideen und der Lichteffekte der Agentur „Kayserreich“, gelungen, auf der verhältnismäßig kleinen Sonderausstellungsfläche im Marchivum in beeindruckender Dichte sehr viele spannende Aspekte unterzubringen, ohne dass es überfrachtet wirkt.
Das Ende der Demokratie naht
Gillen charakterisiert die 1920er Jahre für Mannheim als Zeit der kulturellen Blüte. Dem habe man „etwas nachspüren wollen, ohne die Schattenseiten zu vergessen“, etwa die „anhaltend hohe Sockelarbeitslosigkeit“, so Gillen. 1924 ist die französische Besetzung von Teilen Mannheims, vor allem des Hafens, gerade beendet, die Stadt blüht auf. „Kunst und Kultur boomen“, und durch den neu eingeführten Acht-Stunden-Tag haben die Menschen mehr Freizeit. Eine Litfaßsäule mit Werbung für das damalige Freizeitvergnügen – Herschelbad, Pferderennen, Konzerte im Rosengarten – bildet daher den ersten Blickfang am Eingang der Sonderschau.
Zwei Wände teilen sie – die Hauswand eines Blocks in der Schwetzingerstadt und die Backsteinfassade des Nebeniusblocks. Zunächst geht es um den Tag und da um den Alltag, die Schule – mit Sütterlinschrift – und die Arbeitswelt, das Wohnen und die beginnende Liebe zu Kleingärten. Aber zu sehen ist auch, dass das Strandbad eben durch Notstandsarbeiten, wie das damals heißt, entsteht. Mannheim wird Standort der ersten Ehe- und Sexualberatungsstelle in Baden, das Radio hält Einzug in immer mehr Haushalte, und es gibt zahlreiche prachtvolle Kaufhäuser.
Die Nachtseite – das sind die Varietés, die Bars, die grellen Leuchtreklamen, aber auch die zunehmende Kriminalität. Und da lenken die Ausstellungsmacher den Blick auch auf einige hochinteressante, aber unerwartete Randaspekte, etwa die Einführung des Polizeifunks 1927, die Gründung einer weiblichen Polizei 1926/27 oder die Anwendung damals neuer Ermittlungsmethoden, um die täglich (!) zwölf bis 15 Fahrraddiebstähle in den Griff zu bekommen. Die Ausstellung endet mit der Gründung der NSDAP-Ortsgruppe 1925. Anfangs ist sie noch völlig unbedeutend, aber mit wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und einem Auftritt Adolf Hitlers im November 1928 im Rosengarten nimmt ihre Stärke zu. Das ist der Anfang vom Ende der goldenen 1920er Jahre.
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