Innenstadt - An diesem Sonntag, 19. Juni, läuft der Mannheimer Verkehrsversuch seit 100 Tagen. Der „MM“ hat Menschen in der Innenstadt nach ihren Erfahrungen gefragt.

100 Tage Mannheimer Verkehrsversuch - das sagen Betroffene

Von 
Eva Baumgartner , Angela Boll , Christian Schall , Timo Schmidhuber , Lea Seethaler und Lisa Uhlmann
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Mannheim. Die Durchfahrt von Fressgasse und Kunststraße unterbrechen, um so den reinen Durchgangsverkehr aus der Innenstadt herauszuhalten. Das ist die Idee des seit Mitte März laufenden, zunächst auf ein Jahr angelegten Verkehrsversuchs. Gleichzeitig soll es mehr Bereiche geben, in denen sich Passanten auch einfach mal hinsetzen können. Dazu wurden Tische, Bänke und Pflanzen aufgestellt. Das Ziel: eine attraktivere Innenstadt.

Doch das einst vom Gemeinderat mit großer Mehrheit auf den Weg gebrachte Projekt wurde zunehmend umstritten. Viele Stimmen, auch aus der Politik, forderten eine Verschiebung, weil es aktuell zu viele Baustellen gebe und auch der Fahrlachtunnel gesperrt sei. Dazu kamen die Umsatzeinbußen durch Corona – deswegen hätten sich viele Händler einen späteren Zeitpunkt für den Versuch gewünscht. Aber nicht nur am Zeitpunkt, auch an der Umsetzung gibt es Kritik.

Grüne, SPD und CDU haben deshalb Gemeinderatsanträge mit Nachbesserungswünschen gestellt, unter anderem geht es um mehr Kontrollen und eine bessere Kommunikation. An diesem Dienstag wird im Technik-Ausschuss darüber beraten.

Die Anwohner

Beim Gespräch auf der Fressgasse ist es angenehm ruhig. Passanten oder Fahrräder kommen hier vorbei – von Autos keine Spur. „Wir sind sehr positiv gestimmt über die Verkehrsberuhigung. Besonders für die Anwohner in der Marktstraße ist das eine große Erleichterung“, sagt Jutta Schroth. Die Vorsitzende des Bürgervereins Innenstadt West vertritt die Interessen der Quadratebewohner von A bis K. Wie die eines Anwohners, der das denkmalgeschützte Haus seines Urgroßvaters in der Marktstraße saniert hat – und es in der sechsten Generation bewohnt.

Vor dem Versuch, so der Anwohner, habe es Kurzsprints von Posern, Autokorsos, Hupkonzerte und Dauerstau bis spät in die Nacht an der Kreuzung F1 und E2 gegeben. Fenster öffnen oder nachts trotz Schallschutzverglasung durchschlafen – schwierig. Heute fällt das Schlafen leicht, kann der Nachwuchs auf der Fressgasse spielen. „Die Wohnqualität hat sich seit der Beruhigung deutlich verbessert, der Verkehr ist zurückgegangen. Wir wollen, dass es so bleibt, sogar ausgebaut wird“, sagt Schroth. Sie kennt auch die Beschwerden der Anwohner in der Erbprinzenstraße, schlägt zwischen U1 und U2 ein Parkverbot vor. So wären zwei Abbiegespuren möglich.

Und Anwohner Wolfgang Mitternacht fragt sich: Wie gehen andere Städte damit um? „Die slowenische Hauptstadt Ljubljana ist autofrei, da gibt es ein kostenloses Shuttle für Gehbehinderte. Ich fordere mehr Mut von der Stadt Mannheim statt Versuche.“ Verbesserungswürdig sei auch die Kontrolle beim Falschparken. Für Schroth ist die Aussage, der Einzelhandel leide nun, eine Hypothese. „Wir sind überzeugt: Die Interessen von Anwohnern und Besuchern sind nicht so verschieden – beide wollen Aufenthaltsqualität.“

Die Autofahrer

Peter Steinbrecher und seine Frau kommen gerade aus der Marktplatz-Tiefgarage. Es ist früher Mittwochnachmittag, sie wollen zum Arzt am Marktplatz. Die Aufregung um den Verkehrsversuch kann der 69-jährige Ludwigshafener nicht so richtig verstehen. Sicher, es gebe Straßen, durch die man nicht fahren könne, sagt er.

Aber da, wo man fahren könne, da sei es kein Problem. „Man muss sich halt kundig machen, bevor man losfährt. Ich lese Zeitung, da war alles genau beschrieben.“ Er sei jedenfalls „ohne Stress“ in die Marktplatz-Tiefgarage gefahren. Serdar Yunus ist aus Stuttgart zum Einkaufen in den türkischen Geschäften nach Mannheim gekommen. Vom Verkehrsversuch hat er noch nichts gehört, aber das ist ihm auch egal. Er habe die Adresse der Marktplatz-Tiefgarage bei Google Maps eingegeben, die Navigation habe ihn über die Marktstraße ins Parkhaus gelotst.

Gar nicht einverstanden mit dem Verkehrsversuch ist dagegen Aysun Karadeniz. Die 37-Jährige wohnt in der Neckarstadt-West. Auch sie muss an diesem Tag mit ihrem Sohn zum Arzt in der Nähe des Bauhauses in R 5, der Junge hat eine Fußverletzung. Das habe soweit gut geklappt, erzählt sie. Von dort hätten sie dann allerdings weiter Richtung Marktplatz fahren wollen, um etwas zu essen. „Ich bin bis zur Schranke in der Fressgasse gefahren und musste dann wieder raus auf den Ring.“ Von dort ging es dann in die Marktplatz-Tiefgarage. „Für die kleinen Flächen, die jetzt für Fußgänger frei gehalten werden, müssen die Autos so viele Umwege fahren“, findet Karadeniz. Dabei gebe es in der Innenstadt doch schon genügend Flächen für Fußgänger.

Die Gastronominnen

Im Quadrat D 6 betreiben Claudia und Christian Oberthür die Traditionsgaststätte „Schwarzer Adler“. Weit genug weg von der verkehrsberuhigten Zone, müsste man meinen. Aber: „Bei uns ist mit dem Versuch das Mittagsgeschäft eingebrochen. Unsere Stammgäste sind vorher in der Pause aus den Stadtteilen hergefahren. Und das dauert ihnen jetzt zu lang“, berichtet Claudia Oberthür (Bild). Niemand habe etwas gegen eine verkehrsberuhigte Innenstadt, aber aktuell sei der Verkehr durch die vielen zusätzlichen Baustellen ja regelrecht blockiert. Die Stadt hätte die Umsetzung besser planen und dadurch den Verkehrsfluss gewährleisten müssen, sagt die Wirtin. Wer so einen Versuch starte, müsse für ein vernünftiges Verkehrsleitsystem sorgen.

Auch Martina Herrdegen ist wenig begeistert vom Verkehrsversuch. Die Straße vor ihrer traditionsreichen Konditorei mit Café in E 2 ist durch die neue Verkehrsführung zur Fahrradstraße geworden, Café und Laden seien schwerer zu erreichen. „Ich habe 40 bis 45 Prozent weniger Kunden“, klagt die Konditormeisterin. Auch das damit verbundene neue Erscheinungsbild der Innenstadt gefällt ihr nicht. Durch die Absperrungen sehe es bisweilen aus wie auf einer „Baustelle“, sagt Herrdegen, die aufgestellten Sitzgelegenheiten findet sie hässlich, zudem wünscht sie sich eine bessere Reinigung rund um die Bänke. Ihre Beobachtung vor ihrem Café ist, dass keiner wisse, wo er jetzt fahren dürfe und wo nicht. Bei dem Projekt handle es sich um einen Versuch, sagt Herrdegen. Aber wie man sehe, funktioniere er so, wie er im Moment ist, für Mannheim nicht.

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Jürgen J. Ams
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Die Radfahrer

Hanna Fetsch hat gerade ihr Rad abgestellt und gönnt sich eine Pause, trinkt einen Schluck und schaut sich um: „Ich finde diesen Verkehrsversuch gut, ich fahre oft mit dem Rad auf die Arbeit und durch die Innenstadt, es ist jetzt für mich entspannter hier“, sagt sie. Sonst sei es in der City oft zu eng für Autos und Radfahrer gewesen. Als Radfahrerin gebe es in der Stadt deshalb oftmals brenzlige oder gar gefährliche Situationen, wenn sich Fahrzeuge und Räder einen mitunter zu schmalen Streifen Straße teilen: „Das ist jetzt sicherer, zumindest in diesen beruhigten Bereichen, aber alle Verkehrsteilnehmer müssen sich erst noch daran gewöhnen.“ Sie würde sich jedenfalls wünschen, dass dieser Zustand auch künftig erhalten wird und die Innenstadt verkehrsberuhigt wird.

Nicht restlos, aber zumindest „zeitweise gelungen“ findet Pablo Z. (Bild) die Verkehrsberuhigung in der Innenstadt: „Es sind noch immer zu viele Autos hier.“ Die Tische und Bänke, die hier jetzt zum Verweilen einladen sollen, bezeichnet er als „cool gemacht“. Sie erinnern den 33-Jährigen an Berlin: „In der Friedrichstraße gibt es das auch, und das Projekt fruchtet dort auch sehr gut.“ An dem Mannheimer Projekt schätzt er, dass Menschen sich hier nun ausruhen können: Für ihn könnte die Verkehrsberuhigung allerdings noch einen Schritt weiter gehen: „Denn es nervt mich wirklich, dass trotzdem noch so viele Autos hier sind.“ Das Ausruhen sei an dieser Stelle für ihn deshalb auch nicht ganz optimal: „Wenn ich mich hinsetze, muss ich ja trotzdem noch die Abgase der Autos einatmen, die noch da sind“, sagt der begeisterte Rennradfahrer.

Die Händler

Unmittelbar betroffen ist Juwelier Troncone in der Freßgasse. Das Geschäft der Brüder Roberto und Claudio Troncone in Q 1 liegt genau in der Zone, die für den Verkehr gesperrt worden ist. Im Sommer wurden auf den Kurzzeitparkplätzen vor ihrem Laden zunächst Pflanzkübel aufgestellt, der nächste Schritt war im März die Totalsperrung der Straße. Ihr Geschäft ist also nur noch zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Selbstredend, dass die beiden alles andere als begeistert sind.

„Wir bekommen den Ärger täglich von unseren Kunden zu hören“, berichtet Claudio Troncone. „Die Jüngeren sind flexibler und mobiler, aber für die Älteren ist das schwierig.“ Ihnen sei der Weg von den Parkhäusern in R 5 oder Q 6/Q 7 zu weit, die näher gelegene Tiefgarage unter dem Marktplatz würden viele aus Imagegründen meiden. Ein großer Teil der Kundschaft käme „für kurze Erledigungen“, zum Beispiel um Schmuck für Reparaturen abzugeben. „Genau dafür wurden vor ein paar Jahren die Kurzzeitparkplätze eingerichtet“, sagt der Juwelier. Deshalb verstehen die Brüder die Rolle rückwärts nicht. „Ja, die Aufenthaltsqualität muss verbessert werden, damit die Leute gerne kommen“, sagen beide. Dazu gehöre auch eine Verkehrsberuhigung. „Das ist vernünftig, aber nicht so.“

„Eine City ohne Verkehr ist eine Siedlung“, meint Roberto Troncone. Man habe bewusst einen Laden in der City eröffnet, jetzt sei der Motor dieser Stadt verpönt. Beide sind in der City aufgewachsen. „Wir haben miterlebt, wie die Fußgängerzone gebaut wurde, es ging immer voran. Doch momentan gehen wir einen großen Schritt zurück.“

Die Passanten

Am Paradeplatz treffen wir zwei junge Teenies. Auf die Frage, wie sie den Verkehrsversuch finden, wissen die beiden augenscheinlich erst gar nicht, um was es geht. Verwirrte Blicke. Wir zeigen auf die Sitzgelegenheiten und Sperrungen. Kommen beide öfter zum Shoppen in die Stadt, seit es hier so aussieht? „Nein, also weiß nicht, also keine Ahnung“, antwortet Alina. Sie blickt zu ihrer Freundin Lena. Auch die schüttelt den Kopf. „Wir haben das gar nicht so mitbekommen ehrlich gesagt“, sagt Alina.

In dem Moment läuft ein Passant vorbei, hört unsere Gesprächswortfetzen und ruft: „Ich find das total gut hier!“ Wir winken ihn zu uns und er sagt sofort: „Es ist super schön hier seitdem. Ein bisschen grün, es ist belebter“, so der junge Mann, der sich uns als Marius vorstellt (kleines Bild). Derweil hat ein Junge mit seiner Mutter auf den angebotenen Sitzgelegenheiten Platz genommen. Beide essen und es sieht so aus, als machen sie gerade eine Pause. Der Junge verfällt auf unsere Frage hin in eine Art wütende Rede: „Hier ist einfach nichts verändert, es steht nur Kram rum. Es hat sich überhaupt nichts getan, alles gleich“, sagt er und zeigt mit seinem ausgestreckten Arm mehrfach die Kunststraße hinunter, während seine Füße von der Sitzgelegenheit baumeln.

Seine Mutter sagt, sie möchte uns jetzt nicht als Passantin etwas sagen, sondern als genervte Autofahrerin, die sie sonst täglich auf dem Weg zur Arbeit ist. Sie zeigt in die genau gegengesetzte Richtung, in Richtung Nettofiliale. „Da unten, noch weit dahinter, steh’ ich morgens ewig, ich komm’ nicht zur Arbeit. Es ist total umständlich und ärgert mich richtig. Katastrophe. Ich brauche gefühlt 100 Jahre.“

Redaktion Eva Baumgartner gehört zur Lokalredaktion Mannheim.

Redaktion Lokalredakteurin, Gerichtsreporterin, Crime-Podcast "Verbrechen im Quadrat"

Redaktion Redakteur in der Wirtschaftsredaktion

Redaktion Stellvertr. Leiter der Lokalredaktion Mannheim

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

Redaktion Seit 2018 als Polizeireporterin für Mannheim in der Lokalredaktion.

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