Er trägt das Wort „Solidarität“ im Vereinsnamen – mit gutem Grund: Vor 100 Jahren ist der Motorsportclub Solidarität Wallstadt, ein in dieser Form in Mannheim inzwischen einmaliger Verein, als Teil der Arbeiterbewegung gegründet worden. Sich aufs Motorrads zu schwingen – das bedeutete Freiheit und die Chance, rauszukommen aus der Enge der städtischen Arbeitersiedlungen. Aber dem Club war immer wichtig, solidarisch zu sein, auf Hilflose und Schwache im Verkehr zu achten und Unfallopfern zu helfen.
1923, das Jahr der Gründung des Vereins, ist weltweit ein Krisenjahr: Franzosen marschieren ins Ruhrgebiet ein, es gibt Hyperinflation und den Hitler-Putsch in München. Im Dorf Wallstadt, das erst 1929 nach Mannheim eingemeindet wird, leben außer Bauern vor allem Maurer, die in den Industriebetrieben der umliegenden Städte arbeiten. Es hat nicht einmal 2400 Einwohner.
Aber es gibt bereits viele Vereine – oft jedoch von Landwirten dominiert. Im Motorsportclub formieren sich die Arbeiter. Vorbild ist der 1893 in Leipzig gegründete Sozialdemokratische Radfahrerclub und die daraus 1886 in Offenbach am Main entstandene Rad- und Motorsportorganisation der Arbeiterbewegung – damals eine der größten Sportorganisationen in Deutschland. Denn dass Arbeiter ein Auto fahren, das gibt es damals nicht. Sie bewegen sich auf zwei Rädern fort. Ihr Wahlspruch: „Frisch auf!“
Männer der ersten Stunde sind Josef Annamaier, August Biereth, Josef Bruckner, Konrad Freitag und Adam Jakobi. Der Club, den sie ins Leben rufen, kommt an: Schon zwei Jahre nach der Gründung zählt er 110 Mitglieder – 75 sind Radfahrer, 32 haben ein Motorrad. Sie wollen nicht nur zur Arbeit fahren, sie wollen mehr – nämlich sportliche Herausforderung und Sicherheit. Schließlich sind Helme und Lederkombis damals noch völlig unüblich. Historische Bilder zeigen die Männer der ersten Stunde in Anzügen auf ihren Maschinen.
Der Verein bietet daher Geschicklichkeitsfahrten für Motorräder und für Radfahrer etwas, was man heute „Verkehrserziehung“ nennen würde. Als Übungsgelände dient die Sellweide, damals ganz unbebaut. Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ist all das vorbei. Der Motorsportclub wird 1933, wie alle Organisationen der Arbeiterbewegung, verboten.
Zwei Jahre nach Kriegsende, 1947, wagen sechs Männer den Neubeginn: Josef Annamaier, Willi Hildenbrand, Sebastian Filser, Erich Krämer und Willi Stauch sowie mit Adam Jakobi einer der Gründer. Und es funktioniert: Mit dem Wirtschaftswunder und dem Aufschwung haben die Menschen wieder Zeit und Geld für sportliche Wettbewerbe. Wallstadter fahren ab 1950 nach Frankfurt, Speyer und Nürnberg zu Bundesmeisterschaften der Motorradfahrer. Manfred Stein schafft es, den Titel des Bundesmeisters nach Wallstadt zu holen. Willi Hildenbrand, in Wallstadt aktiv und zugleich Landesmotorsportleiter, kommt bei der Deutschland-Rallye unter die ersten Zehn.
Beliebtes Volksradfahren
Aber nicht nur Spitzensport betreibt der Motorsportclub. In den 1950er und 1960er Jahren richtet er auf der damaligen Rollschuhbahn auf dem alten Kerweplatz in der Amorbacher Straße sowie im Krone-Saal Bezirksmeisterschaften in Radpolo, Rollschuh- und Radball durch. Willi Stauch organisiert Radrennen rund um Wallstadt. Mit dabei ist Karl Ziegler – später erfolgreicher Bundestrainer im Bund Deutscher Radfahrer (BDR) sowie Entdecker der Brüder Rudi und Willi Altig.
In den 1980er Jahren ändern sich die Schwerpunkte des Vereins – weg vom Motorsport, hin zur Bewegung. „Trimm Dich“ wird „in“, und in diesem Zusammenhang ruft Walter Sent für den Motorsportclub das Wallstadter Volksradfahren ins Leben. Es wird eine der populärsten Veranstaltungen des Stadtteils und weit darüber hinaus, für die Peter Jakobi jedes Jahr die Strecke austüftelt und für die es stets prominente Schirmherren aus der Politik gibt.
Vor 23 Jahren kam die Motorradausflugsfahrt dazu – organisiert von Christian Haas und verbunden mit einer Besonderheit vor dem Start: Einer der Wallstadter Geistlichen kommt, segnet Motorräder und Fahrer, wünscht gute und sichere Heimkehr. Auf Ralleys verzichtet der Motorsportclub aber längst – offiziell sind all diese Ausfahrten rein private Touren, denn die Kosten und Sicherheitsauflagen wären für so einen kleinen Verein viel zu groß.
Untrennbar verbunden ist die Vereinsgeschichte mit Heinrich Müller, im Ort der „Müller’s Heiner“ genannt. Aus einer alteingesessenen Maurer- und Kaminbauerfamilie stammend, erlernte er den Beruf der Väter und war im Handwerk über Jahrzehnte selbstständig – und doch über Jahrzehnte zugleich Vorsitzender des aus der Arbeiterbewegung stammenden, lange sozialdemokratisch geprägten Vereins. 1999, nach dem groß gefeierten 75. Jubiläum, übernahm seine zuvor schon als Schriftführerin und 2. Vorsitzende aktive Tochter Manuela den Vorsitz, den sie bis heute innehat.
Der Verein versteht sich als große Familie, feiert oft zusammen, aber schafft auch viel zusammen – und das nicht nur bei eigenen Veranstaltungen. Die große 1250-Jahr-Feier von Wallstadt, viele andere Festumzüge anderer Vereine oder die Kerwe des Orts wären ohne die originellen Beiträge wie auch das große, zupackende Engagement der Mitglieder des Motorsportclubs undenkbar.
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