Das Lebenshilfe-Wohnhaus Stengelhof im Herzen der Rheinau am Karlsplatz - fast auf den Tag genau 30 Jahre ist es her, dass es am 18. Oktober 1986 eingeweiht wird. Die Jahre davor markieren einen schwierigen Weg. Der "MM" blickt zurück.
Und um die Entwicklung zu verstehen, muss der Blick weit zurückgehen - in die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte. Im Dritten Reich werden Geistigbehinderte unter dem verschleiernden Begriff der "Euthanasie" ermordet, nur wenige überleben. Ende der 1950er Jahre ist jedoch eine neue Generation herangewachsen. Aber Betreuungs- und Fördereinrichtungen gibt es nicht. Schulbesuch ist ihnen gar verboten, sie gelten als "nicht bildungsfähig".
Als Selbsthilfegruppe von Eltern wird 1958 in Marburg die erste Lebenshilfe-Ortsvereinigung gegründet. In Mannheim ist es Wieland Müller, beim Staatlichen Schulamt tätig und bald dessen Leiter, der über die Frage der Bildungsfähigkeit mit der Thematik in Kontakt kommt; sie wird ihn bis zu seinem Tode 1992 nicht loslassen. Mit anderen Persönlichkeiten der Stadt gründet er 1961 die Mannheimer Lebenshilfe. Nur fünf Jahre später hat er den Bau einer eigenen Schule für Geistigbehinderte erreicht: die Eugen-Neter-Schule auf der Blumenau.
Wohnheimplätze notwendig
In den achtziger Jahren entsteht eine neue Herausforderung: Die Betroffenen und ihre Eltern sind älter geworden. Viele Eltern sorgen sich, was aus ihren Schützlingen werden soll, wenn sie selbst nicht mehr sind. Müllers Erkenntnis: Wohnheimplätze müssen geschaffen werden.
1978 fasst die Lebenshilfe den Beschluss zum Bau einer solchen Einrichtung: "Wir haben das Herz über den Graben geworfen und uns so gezwungen hinterherzuspringen", formuliert Müller viele Jahre später.
Denn die Finanzierung der 2,2 Millionen D-Mark betragenden Baukosten ist damals noch völlig offen. Am Ende kommen 40 Prozent vom Bund, 30 Prozent vom Land, je zehn Prozent von der Stadt, der Aktion Sorgenkind und aus Spenden.
Viele engagieren sich - Organisationen und Einzelpersonen. Stellvertretend für alle genannt seien hier der Deutsch-Amerikanische Frauenarbeitskreis oder Anita Varnholt; nach dem Tode ihres Mannes, des Oberbürgermeisters Wilhelm Varnholt, 1983 bittet sie, für das Lebenshilfe-Projekt zu spenden. 10 000 D-Mark gar kommen von einer Person, die nicht genannt sein möchte.
Auf historischem Boden
Schließlich ist auch das Grundstück vorhanden, das die Stadt kostenlos zur Verfügung stellt: das Gelände des Alten Stengelhofes, eines in seinem Kern aus dem 18. Jahrhundert stammenden Gutshofes. Auch hierbei mit seiner Unterstützung entscheidend: der damalige Sozialbürgermeister Wolfgang Pföhler.
1981 beginnt Architekt Michael Marzenell mit den Planungen. Grundsteinlegung ist am 20. Juli 1985 - bewusst der Jahrestag des Attentats auf Hitler. "Wir legen den Grundstein zu diesem Haus auch im Gedenken an all jene", sagt Lebenshilfe-Vize Rolf Schmidt damals, "die dem verbrecherischen Nationalsozialismus, zu dessen unschuldigen Opfern so viele Behinderte gehörten, Widerstand leisteten."
Der Bau beginnt. Von Seiten der Lebenshilfe wird er von dem Ingenieur Wolfgang Uehlein begleitet; dankbar geht die Erinnerung der Beteiligten heute an den vor knapp einem Jahr verstorbenen langjährigen Vize-Vorsitzenden der Lebenshilfe.
Am Samstag, 18. Oktober 1986, ist es soweit: In einem großen Festzelt im Hof wird Einweihung gefeiert. Wieland Müller erinnert an den historischen Boden, auf dem man sich befindet: "Das spannt den Bogen von kurfürstlicher Herrlichkeit bis zum Sozialstaat unserer Tage".
Alle sind begeistert: Der dreistöckige Bau passt sich optimal ein in das bestehende Umfeld, ja bildet einen architektonischen Akzent für diese Ecke Rheinaus. Schmuckstück im Inneren ist ein als Speise- und Aufenthaltsraum zu nutzender Anbau in Form eines Wintergartens.
Fortan finden hier zunächst 38 (damals noch jugendliche) Menschen mit geistiger Behinderung eine neue Heimat - und dies im umfassenden Sinne dieses Wortes.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim/rheinau-hochstaett_artikel,-rheinau-hochstaett-das-ende-eines-langen-weges-_arid,937340.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim/rheinau-hochstaett.html
[2] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html