Steffi Grafs Geburtsort

Vor genau 125 Jahren, am 1. Januar 1899, wird das Dorf Neckarau nach mehr als 1000 Jahren Selbstständigkeit Stadtteil von Mannheim. Die Eingemeindung bringt den Menschen vor Ort eine Modernisierung ihrer Infrastruktur und mehrere neue Wohngebiete

Von 
Konstantin Groß
Lesedauer: 
Neckaraus Ortskern (heutige Rheingoldstraße) um 1906 mit Endstation der Straßenbahn – Errungenschaft der Eingemeindung nach Mannheim. © Geschichtsverein

Wie oft müssen die Mannheimer lesen, Steffi Graf sei in „Brühl bei Heidelberg“ geboren oder gar „Heidelbergerin“. Dabei ist völlig eindeutig: Das Licht der Welt erblickt Stefanie Maria Graf am 14. Juni 1969 in der Geburtsklinik Altendorf-Groh im Mannheimer Vorort Neckarau. Steffi ist also gebürtige Neckarauerin – und damit Mannheimerin. Letzteres natürlich nur, weil Neckarau mit Wirkung vom 1. Januar 1899 ein Stadtteil von Mannheim wird – vor genau 125 Jahren.

Zuvor ist „Neggara“, schriftlich erstmals erwähnt in einer Urkunde des Klosters Prüm vom 15. Februar des Jahres 871, länger als ein Jahrtausend ein selbstständiges Dorf am Rhein und – bis zur Änderung seines Laufes ab dem 13. Jahrhundert – auch am Neckar; daher auch der Ortsname, obwohl heute weit und breit kein Neckar mehr zu sehen ist.

Bis zur Reichsgründung von 1871 gibt es im Ort kaum Veränderungen. Ökonomisch und politisch dominiert weiter eine Handvoll Großbauern; sie besitzen 18 Hektar, während sich die übrigen 600 Landwirte zusammen 1000 Hektar teilen müssen. 450 Höfe umfassen weniger als 1,8 Hektar, 185 sogar nicht einmal 36 ar.

Doch dann ändert sich alles: Im Zuge des Gründerbooms siedelt sich dank der idealen Verkehrsanbindung durch die Rheintalbahn Industrie an. Allen voran die Rheinische Gummi- und Celluloid-Fabrik, in ihrer Blütezeit mit 80 000 Quadratmetern Werksfläche und 6000 Beschäftigten die größte Celluloid-Fabrik der Welt, in dieser bekannt durch ihre legendären Schildkröt-Puppen.

Industrie gegen Großbauern

Doch die Infrastruktur hält nicht mit. Der kleine Ort kann das nicht schultern, der agrarisch dominierte Gemeinderat will das auch nicht. 1896 machen die örtlichen Unternehmer daher einen ersten Vorstoß, Neckarau nach Mannheim einzugemeinden. Das wollen die Neckarauer Großbauern aber auch nicht.

Zwei Jahre später greift die Großherzogliche Regierung das Thema auf. Im März 1898 beginnen die Verhandlungen. Sie verlaufen schleppend. Über den Zwischenstand erfolgt am 1. April 1898 eine erste Abstimmung im Neckarauer Gemeinderat: vier dagegen, zwei dafür, drei Enthaltungen. Was macht man mit einem solchen Ergebnis? Weiter verhandeln. Als Bedingung formulieren die Neckarauer fünf klare Forderungen an Mannheim: 1. Anlage der Kanalisation; 2. Straßenbeleuchtung mit Gaslampen; 3. Pflasterung der Straßen „mit gesonderten Gehwegen“ (!); 4. Ausbau der Volksschule über das vierte Schuljahr hinaus; 5. Bau eines Krankenhauses.

Doch wieder haken die Verhandlungen. Am 25. April 1898 gehen die 15 führenden Neckarauer Unternehmer mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit; wie man sich leicht vorstellen kann, erregt sie Aufsehen. In scharfer Form wirft sie Neckaraus Gemeinderat vor, die Verhandlungen durch „Festhalten an zu weitgehenden Bedingungen, die teilweise nur einer Minderheit der Gemeindebürger zugutekommen“, zu gefährden. Um als selbstständige Gemeinde die nötigen Investitionen zu leisten, müsste die Steuerbelastung derart erhöht werden, dass sie für die Industrie nicht mehr tragbar wäre – und diese dann abwandern müsste. So die unausgesprochene Drohung. So was zieht immer, ja auch heute.

Und eben damals. Die Verhandlungen werden erfolgreich beendet, das Vertragswerk am 23. Mai 1898 im Neckarauer Bürgerausschuss mit deutlicher Mehrheit verabschiedet. Von den 79 Anwesenden votieren 57 für die Eingemeindung und 22 dagegen. Unter den Befürwortern sämtliche neun Mitglieder der SPD, unter den Gegnern die Großbauern.

Am 2. Juni 1898 stimmt auch der Bürgerausschuss der Stadt Mannheim zu, und zwar einstimmig, am 23. Juni 1898 der Badische Landtag in Karlsruhe. Dessen Eingemeindungsgesetz, das am 9. August erlassen wird, verkündet in Paragraf 1 schmucklos, ja hart: „Die Gemeinde Neckarau wird aufgelöst und mit der Stadtgemeinde Mannheim zu einer einfachen Gemeinde vereinigt“. Das Ganze tritt am 1. Januar 1899 in Kraft; nach über 1000 Jahren verliert Neckarau die Selbstständigkeit.

Drei Tage zuvor steigt die „Einverleibungsfeier“. Um 14 Uhr reisen Mannheims Oberbürgermeister Otto Beck und die ihn begleitenden Honoratioren mit einem fahrplanmäßigen Nahverkehrszug an. Die Idee, mit einem geschmückten Sonderzug anzurücken, wird verworfen, um angesichts der nach wie vor großen Skepsis vieler Neckarauer gegen die Eingemeindung nicht den Eindruck eines Mannheimer Triumphzuges aufkommen zu lassen.

Vom Bahnhof begeben sich die Ehrengäste, eskortiert von einer Musikkapelle, zum Rathaus. Die komplett angetretenen Neckarauer Gesangvereine singen „Vaterland, wie bist Du schön“, es folgen feierliche Reden. Neckaraus bisheriger Bürgermeister Valentin Orth macht aus seinem Herzen keine Mördergrube: „Es hat uns große Überwindung gekostet, unsere Selbstständigkeit aufzugeben“, bekennt er. Aber: „Ich bin überzeugt, dass die Stadt Mannheim das große Opfer, welches wir gebracht haben, wohl zu schätzen und zu würdigen weiß. Das walte Gott!“

Um 17 Uhr folgt im Gasthaus „Zum Schwanen“ das Festessen. Nach einem Prosit „auf Seine Königliche Hoheit, den Großherzog“ und einem Grußwort des Tabakfabrikanten Leoni im Namen der Industrie haben die Ortsgeistlichen das Wort.

Dabei wird die unterschiedliche Stellung der beiden Kirchen im Kaiserreich und zur Eingemeindung deutlich: die protestantische als Trägerin der herrschenden bäuerlichen Oberschicht, die katholische verankert in der Arbeiterschaft. So vergleicht der evangelische Pfarrer Sauer die Eingemeindung mit einer Geburt, die in diesem Falle eine „Zangengeburt“ sei: „Möge die Mutter Mannheim ihrem Kind Neckarau von nun an ihre besondere Liebe und Pflege angedeihen lassen.“

Der katholische Pfarrer Freund dagegen wählt ein positiv besetztes Bild, vergleicht die Eingemeindung mit einer Hochzeit, wobei Mannheim der Bräutigam und Neckarau die Braut sei: „Die Braut opfert ihre gesamte Existenz dem Bräutigam, vertraut ihm voll, und hofft, dass er ihre Liebe nimmer zu Schaden kommen lässt“. Schlagfertig greift OB Beck diesen Vergleich auf: „Die Braut hat zwar den Bräutigam das erste Mal schnöde zurückgewiesen. Aber der Bräutigam hat immer gewusst, dass wahre Liebe siegt.“

150 Liter Freibier pro Gasthaus

Auch die Bürger dürfen feiern – in den vielen Neckarauer Gasthäusern, in denen auf Kosten der Stadt Mannheim Freibier ausgeschenkt wird. Und zwar 150 Liter pro Wirtschaft.

Noch vor Inkrafttreten der Eingemeindung macht sich Mannheim daran, seine Versprechen einzulösen. Bereits 1898 werden in Neckaraus Straßen die ersten Gas-Laternen installiert. 1899 folgt der Anschluss an die städtische Kanalisation, 1900 an das Trinkwassernetz, 1903 der Bau des Pumpwerks (heute Domizil des Künstlers Dietmar Brixy). Im gleichen Jahr wird Neckarau an die Mannheimer Straßenbahn angebunden, drei Jahre später auch der Ortskern mit Abzweig in die Friedrich- und die Rheingoldstraße mit Endstation vor der Matthäuskirche.

Die geforderten Einrichtungen kommen ebenfalls, ab 1907 der Bau der Wilhelm-Wundt-Schule als Paradebeispiel für den Schulhausbau des Kaiserreiches. Bis zu einem Krankenhaus dauert es allerdings bis nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die erste größere Erweiterung über den mittelalterlichen Ortskern hinaus erfolgt ab 1925 durch den Almenhof mit einer großen Freifläche in der Mitte, dem „1848er Platz“, nach 1930 im Waldweg ein erster Sprung ins Niederfeld. Letzte große Erschließung wird Ende der 1980er Jahre der südlichste Teil des Niederfelds mit den Straßennamen aus der Nibelungen-Sage. 5000 Neubürger kommen in den Vorort. Sie werden ihn grundlegend verändern.

Mehr erfahren über Mannheim-Neckarau

Lage: Der Mannheimer Stadtbezirk Neckarau liegt im Südwesten der Stadt direkt am Rhein. Dort Waldpark mit Naturschutzgebiet Reiß-Insel.

Neckarau heute: 11 qkm und 30 000 Einwohner, davon Niederfeld: 4,2 qkm und 7600 Einwohner; Almenhof: 1,3 qkm und 7000 Einwohner.

Bevölkerung: Mit Migrationshintergrund: rund 39 %, darunter 14 % Türken, 11 % Italiener, 10 % Polen.

Religionszugehörigkeit: 26 % katholisch, 22 % evangelisch, rund 52 % andere oder keine Konfession.

Freizeit: Strandbad am Rheinufer, Stollenwörthweiher mit 2 Freibädern, Reitanlage, Rhein-Neckar-Theater.

Bekannte Neckarauer: Wilhelm Wundt (1832-1920), Psychologe; Gustav Seitz (1906-69), Bildhauer; Heinz Hoffmann (1910-85), Verteidigungsminister der DDR; Steffi Graf (geb. 1969), Tennissportlerin; Uwe Gensheimer (geb. 1986), Handballer.

Heimatforschung: Verein Geschich-te Alt-Neckarau, gegründet 1983, Vors. Wolfgang Reinhard, Heimatmuseum/Ausstellungen im Rathaus, verein-geschichte-alt-neckarau-de.

Literatur: Ortschronik „Neckarau im Spiegel der Zeit“, verfasst von Konstantin Groß, herausgegeben vom Verein Geschichte Alt-Neckarau 2013, 240 Seiten, Waldkirch-Verlag Mannheim, 19,80 Euro; historischer Bildband „Neckarau vom Bauerndorf zum Stadtteil“ mit 210 historischen Fotografien, erschienen 2012 im Sutton-Verlag Erfurt, 18,95 Euro.

Zum Eingemeindungsjubiläum: am Mittwoch, 24. Januar, 18 Uhr, Vortrag von Dr. Harald Stockert, Direktor des Marchivum, eben dort (Archivplatz 1, 68169 MA) und im Livestream. -tin

Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke