Medizin - Patientin erlangt durch Implantation eines Netzhautchips am Klinikum Ludwigshafen ihre Sehkraft wieder – Teil einer europaweiten Zulassungsstudie

Wie ein in Ludwigshafen eingesetzter Netzhautchip die Sehkraft einer Patientin wiederherstellt

Von 
Julian Eistetter
Lesedauer: 
© Christoph Blüthner

Ludwigshafen. Zuerst erscheinen Details und Gesichter verzerrt. Dann verblassen allmählich Farben und Kontraste. Schließlich bleibt nur noch ein dunkler Fleck wahrnehmbar. Dass im Alter das Sehvermögen schwinden kann, diese Erfahrung musste auch Annegret Berger machen. Die 78-Jährige leidet unter der trockenen Form der altersbedingten Makuladegeneration (AMD), einer chronischen Augenerkrankung, die etwa ab dem 55 Lebensjahr einsetzen kann. Sie betrifft das Zentrum der Netzhaut, die Makula lutea, auch als gelber Fleck bekannt, die für das Sehen und die Sehschärfe besonders wichtig ist. Bei der trockenen AMD kommt es hinter der Makula zu Ablagerungen, die langsam zum Absterben von Sehzellen führen. Auch wenn die Betroffenen in der Regel nicht vollständig erblinden, so hat die Erkrankung schwerwiegende Auswirkungen auf ihr Leben. Den Alltag allein zu bewältigen, ist im fortschreitenden Stadium kaum noch möglich. Die trockene AMD gilt bislang als nicht therapier- geschweige denn heilbar.

Europaweite Zulassungsstudie

Annegret Berger sitzt in einem kleinen Raum im Klinikum Ludwigshafen. „Sehtraining“ steht auf einem Papierzettel, der draußen an der Tür hängt. Seit einigen Monaten kommt Berger, die eigentlich anders heißt, wöchentlich hierher. Sie ist Probandin einer europaweiten Zulassungsstudie, die zahlreichen Menschen wie ihr, die durch AMD ihr Sehvermögen verloren haben, Hoffnung gibt. Viele Details dieser Studie sind in diesem frühen Stadium noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Und so müssen auch wesentliche Informationen über die Patientin geheim bleiben.

AMD

  • Die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) ist eine Erkrankung des Zentrums der Netzhaut, der Makula lutea.
  • Sie kann ab dem 55 Lebensjahr auftreten und hat schwerwiegende Folgen für das Sehvermögen der Betroffenen.
  • Es gibt zwei Formen: die trockene und die feuchte. Die feuchte Form ist therapierbar. Der Netzhautchip kommt bei der trockenen Form zum Einsatz.

Viele Wochen intensiven Trainings

Im Dezember des vergangenen Jahres wurde der Seniorin am Klinikum ein winziger, neuartiger Netzhautchip ins Auge eingesetzt, unter die Netzhaut, in dem Bereich der Makula, wo die Pigmentschicht beschädigt ist und der Sehverlust seine Ursache hat. Die Aufgaben der beschädigten Zellen soll in Zukunft der Chip übernehmen - und der 78-Jährigen wieder ein eigenständiges Leben ermöglichen. „Das Produkt ersetzt die Sehkraft“, sagt Luise Fornoff, Optikerin am Klinikum und eine von drei Studienkoordinatorinnen. Sie übt mit der Patientin den Umgang mit dem Chip und der dazugehörigen Sehhilfe. Denn nur in Kombination mit einer bestimmten Vorrichtung kann das winzige Plättchen im Auge die Sehkraft wiederherstellen. Auf drei Jahre ist die Studie angelegt, auf Berger kommen also noch viele Wochen intensiven Trainings zu.

Beide Augen betroffen

Anfangs habe sie gar nicht gemerkt, dass sie schlechter sieht, berichtet die 78-Jährige im Gespräch mit dieser Redaktion. Vor etwa eineinhalb Jahren habe sie dann die Diagnose erhalten. Bei ihr sind beide Augen betroffen, das eine aber deutlich stärker als das andere. Unter zehn Prozent habe die Sehfähigkeit auf dem schlechteren gelegen. Die Grenze, um normal groß gedruckte Texte lesen zu können, liegt bei 40 Prozent. „Ich musste aufhören, Auto zu fahren, und bin sehr auf meinen Mann angewiesen“, berichtet Berger. Texte entziffern kann sie nur noch mit dem besseren Auge - und auch nur mit starken Sehhilfen. Schließlich machte ihre Augenärztin sie auf die Studie aufmerksam.

Gefürchtet habe sie sich vor dem Eingriff im Auge nicht, sagt Berger. „Es konnte ja nur besser werden.“ Und das wurde es. Buchstaben in bestimmter Größe könne die 78-Jährige beim Sehtraining dank Chip und Sehhilfe bereits lesen. Mit einem Bedienelement kann zudem der Bildausschnitt näher ran- oder weiter rausgezoomt werden. „Das ist schon toll“, sagt Berger. Schmerzen habe sie nach der OP nicht gehabt, den Chip im Auge spüre sie nicht. Der technische Fortschritt ist für die Seniorin beeindruckend. „Ich bin noch ohne Fernseher und mit einem riesigen Radio aufgewachsen“, sagt sie. Heute hat sie einen winzigen Chip im Auge.

Chefarzt Lars-Olof Hattenbach hat den Chip eingesetzt. © Klinikum/Pakalski

"Es darf nichts schiefgehen"

Auch für Lars-Olof Hattenbach ist die neuartige Technologie geradezu revolutionär. Er ist Chefarzt der Augenklinik am Ludwigshafener Klinikum und hat den Mikrochip mit eigenen Händen eingesetzt. Eine besondere Herausforderung, wie er im Gespräch schildert. „Es darf nichts schiefgehen, das Implantat darf keinesfalls beschädigt werden“, sagt er. Da der Eingriff mit diesem Netzhautchip bundesweit einer der ersten war, sei das Besondere des Moments im OP förmlich spürbar gewesen, so Hattenbach. Seine langjährige, besonders spezialisierte chirurgische Erfahrung mit vielen sehr ähnlichen Eingriffen sei ihm dabei zugute gekommen. Nur sechs Zentren deutschlandweit mit extrem hoher Expertise dürfen, nach einem zusätzlichen Trainingsprogramm zur Vorbereitung, an der Zulassungsstudie teilnehmen.

Schon in der Vergangenheit habe es Anläufe mit ähnlichen Implantaten gegeben, berichtet Hattenbach. Allerdings seien diese viel größer und verkabelt gewesen, das Risiko für das Auge demnach viel höher. „Da hatte ich nie ein gutes Bauchgefühl, das ist diesmal anders“, erklärt der Chefarzt mit Blick auf den ultrakleinen, flachen und drahtlosen Chip, der zudem aus gewebekompatiblem Material sei. Die Studie habe aber auch eine Vorlaufzeit von mehr als zehn Jahren gehabt.

„Alles läuft nach Plan“

Mit den Fortschritten der Probandin Annegret Berger ist Hattenbach zufrieden. „Es läuft alles völlig nach Plan“, sagt er. Gleichwohl betont er auch, dass es noch ein sehr frühes Stadium der Studie sei, deren Ergebnisse erst abgewartet werden müssten. Vollständig wiederhergestellt werden kann die Sehkraft auch mit dem Netzhautchip nicht. „Realistischerweise ist eine Sehkraft von etwa 20 Prozent zu erwarten“, sagt der Mediziner. Für die Betroffenen könne das aber im Alltag schon eine enorme Verbesserung darstellen.

Dass sie irgendwann wieder so sehen kann wie früher, davon war Berger nicht ausgegangen. Und auch ihr großer Traum, noch einmal selbst mit dem Auto zu fahren, wird sich wohl nicht erfüllen. Aber dennoch ist sie Teil eines womöglich zukunftsweisenden Projekts und einer der ersten Menschen, der nach fast vollständigem Verlust der Sehkraft durch AMD auf einem Auge wieder etwas sehen kann.

Redaktion Reporter Region, Teamleiter Neckar-Bergstraße und Ausbildungsredakteur

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen