Mainz/Ludwigshafen. „Wer von euch war noch nie auf einem Poetry Slam?“ Die Frage, die Moderator Ken Yamamoto in Mainz seinem Publikum stellt, ist stilbildend für das Format. Der „moderne Dichterwettstreit“, bei dem Autorinnen und Autoren selbst verfasste Texte in maximal sechs Minuten zum Besten geben, ist diesmal fast allen bekannt. Schließlich trifft man sich im noblen Frankfurter Hof zur rheinland-pfälzischen Landesmeisterschaft. Zwei Tage lang sind 16 der besten Poeten des Landes zu Gast in der Landeshauptstadt. Nominiert sind sie von den Slams verschiedener Städte.
Was ist ein Poetry Slam?
- Poetry Slam ist ein moderner Dichterwettstreit. Autorinnen und Autoren präsentieren innerhalb einer vorgegebenen Zeit vor Publikum selbstgeschriebene Texte. Erlaubt sind sämtliche Stile, nicht jedoch Requisiten.
- Das 1986 in Chicago entwickelte Format erfreut sich in Deutschland anhaltender Beliebtheit. Mehrere Hundert Wettbewerbe finden jedes Jahr statt. Seit 2016 zählen die deutschsprachigen Slams zum immateriellen Kulturerbe der Unesco.
- Die Landesmeisterschaft Rheinland-Pfalz wurde zum zwölften Mal ausgetragen. Der frisch gekürte Sieger und amtierende deutschsprachige Vizemeister Rainer Holl ist für die diesjährigen Meisterschaften in Bochum qualifiziert, ebenso die Zweit- und Drittplatzierten Anuraj Sri Rajarajendran (Landau) und Rebecca Heims (Mainz).
Für Ludwigshafen am Start: Rainer Holl, seines Zeichens deutschsprachiger Vize-Meister und einer der Großen der Szene. Mehr als 1000 Shows, Literaturveranstaltungen und Poetry Slams hat der 40-jährige Wahl-Leipziger absolviert. Moderator, Autor, Podcaster, aber auch Coach für Wissenschaftskommunikation: Rainer Holl hat viele Gesichter. Auch in Mainz verdeutlicht er seine Bandbreite. Schon in der Vorschlussrunde erzielt der Performance-Künstler, der in Mannheim den Science Slam moderiert, mit einer aufrüttelnd-kritischen Betrachtung der politischen Lage Höchstwertungen der neunköpfigen Publikumsjury. Mindestens die Acht steht jedes Mal vor dem Komma.
Auch persönliche Themen
Im Finale, das er als Gruppensieger erreicht, schlägt Holl dann andere Töne an: „Den Text habe ich heute erst vollendet“, gesteht der Slam-Poet mit Blick auf sein jüngstes Werk „1992“. In jenem Jahr widersetzt sich der „kleine Rainer“ bei seiner Kommunion dem Tischgebet – ein „Akt der Verweigerung“, für den der Künstler dem „jüngeren Ich bis heute dankt“.
Der persönlichste Beitrag folgt im „finalen Stechen“, dem Schlusspunkt des literarischen Wettstreits. Melancholisches lässt der Titel erahnen: „Immer wenn du lachst, stirbt irgendwo ein Mensch“. Doch soll der Text in Wirklichkeit Hoffnung machen. „Sollte ich einmal sterben, können Menschen trotzdem noch lachen“, lautet die frohe Botschaft. Und „immer, wenn wir glauben, dass wir die Welt verbessern, passiert das genaue Gegenteil“, schließt sich die Mahnung an.
Gewandte Worte und Kritik am oft absurden System – dies bringt Holl am Ende die Krone. Mit zwei Punkten Vorsprung gewinnt der Autor, der schon Auszeichnungen wie den Bielefelder Kabarettpreis und den Hamburger Comedy-Pokal errungen hat. Platz 2 geht an Anuraj Sri Rajarajendran aus Landau, Dritte wird Lokalmatadorin Rebecca Heims. Knapp dahinter: Leander Bauer aus Bingen. Sie alle konnten in besonderem Maß mit sprachlicher Ausdruckskraft und inhaltlicher Tiefe begeistern, dem Markenkern erfolgreicher Slammer. Der Lohn für die „Top 3“ ist das Ticket nach Bochum. Dort vertreten sie Rheinland-Pfalz bei der deutschsprachigen Meisterschaft am 27. Oktober.
2024 in Worms
Dass es beim Slam jedoch nicht nur um Punkte und Siege geht („The points are not the point“) und dass auch Ungewöhnliches Anklang findet, beweisen unter anderem die aus Ludwigshafen angereisten Teilnehmer. Gleich zweimal bringen sie Rap auf die Bühne: Während sich NichtGanzDichter als battelnder Schachspieler outet, tritt Edith Brünnler mit einem „Albtraum-Rap“ an. Im Kulturzentrum KUZ ergreift sie spontan ein „Dämon“, der „aus ihr“ auf Hochdeutsch spricht – entgegen dem Habitus der bekannten, 1953 geborenen Mundartdichterin, die für Neustadt startet. Die „richtige Pfälzer Sprache“ findet Brünnler erst wieder, nachdem sie die Zähne mit Riesling putzt: „Vun jetz uff noochher – es is widder do. Ich redd widder Pälzisch! Ach Gott, bin ich froh!“
Ernstere Themen fasst Yasmin Abbas ins Auge: „Nie neutral“ betrachtet zu werden, sondern stets durch den Blick der Gesellschaft, behaftet mit rassistischen Vorurteilen, führe zu einem Gefühl der Zerrissenheit. So versteht die 25-jährige Oggersheimerin ihren Auftritt als Appell gegen Kategorisierung und pro Akzeptanz. Für die Poetin ist die Rheinland-Pfalz-Meisterschaft ihre „bisher spannendste literarische Erfahrung“. Dies erklärt sie auch damit, dass sie in mehrere Rollen schlüpfte. Während sie im Halbfinale, moderiert von Jens Jekewitz, noch selbst um Wertungen kämpfte, war sie am Finaltag Teil der Abendleitung. Bei der U20-Meisterschaft, die dem Event vorausging, agierte Abbas zudem als Fotografin.
Wer war alles dabei?
Als weitere Acts waren in Mainz zu erleben: Elvin Jonas, Emily Schilz, Joshua Vogelgesang, Julie Kerdellant (Finale) sowie Don Esteban, Jonas Galm, Laura Brenner, Marco Valentino und Theresa Scheuch (Halbfinale). Als frischgebackener Landesmeister folgt Rainer Holl auf Lenny Felling. Der letztjährige Titelträger war diesmal Moderator und Co-Organisator der Show. Der nächste RLP-Slam steigt vom 26. bis 28. September 2024 in Worms.
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