Viernheim. Er wagte sich in ein Stück Urwald im Ried - und dabei entdeckte der Viernheimer Naturschützer Peter Dresen einen echten Urwaldbewohner. Oder vielmehr: Der seltene Käfer entdeckte ihn, setzte sich unbemerkt auf Dresens Hemdkragen und fuhr mit ihm bis nach Hause. Erst dort bemerkte der langjährige Vorsitzende des Viernheimer Bundes für Umwelt- und Naturschutz den blinden Passagier - und war begeistert. „Der Achtfleckige Augenbock ist ein in Deutschland nahezu ausgestorbener, extrem seltener Käfer, den Fachleute auch als Urwaldrelikt bezeichnen“, erzählt der Viernheimer. Doch auf die erste Freude folgte der Schreck: Dort, wo der Käfer lebt, sollen bald Bagger anrollen, um eine Erdgasleitung zu verlegen. „Nach meiner Meinung würde dadurch das Biotop des Käfers zerstört“, ist Dresen besorgt.
Tatsächlich liegt der vermutete Lebensraum des Käfers neben der „Panzerstraße“ - der Lampertheimer Straße, die Viernheim und Lampertheim durch den Wald verbindet. Rund 20 Meter neben dem geschotterten Weg soll künftig die Süddeutsche Erdgasleitung (SEL) verlaufen. Diese rund 250 Kilometer lange Leitung wird von Lampertheim bis nach Bayern reichen. Gebaut wird sie vom Unternehmen TerranetsBW, einer Tochter der EnBW. Nach deren Angaben soll die SEL Erdgas liefern, damit bisherige Kohlekraftwerke entlang der Strecke - beispielsweise in Mannheim - umgerüstet werden können. Ab 2030 soll durch die SEL Wasserstoff fließen. Festgelegt wurde der Bau bereits vor rund 20 Jahren. „Heute ist das Vorhaben aus der Zeit gefallen“, findet der Viernheimer Dresen. Weder würde durch die Energiewende künftig so viel Erdgas gebraucht noch danach eine so mächtige Leitung für Wasserstoff. Umso mehr bekümmert ihn, dass diese Leitung nun einem seltenen Käfer gefährlich werden könnte, „von dessen Existenz im Viernheimer Wald damals beim Baubeschluss niemand wusste“, sagt Dresen.
Käfer ist nicht durch europäisches Recht geschützt
Der engagierte Naturschützer hat sich nach seinem Fund direkt an TerranetsBW gewandt. Für das Unternehmen ist das nichts Ungewöhnliches. „Um besonders wertvolle Tier- und Pflanzenarten zu schützen, untersucht TerranetsBW Umwelt und Natur entlang der geplanten Leitung genau. Auch Hinweise lokaler Naturschützer fließen in die Untersuchungen ein“, erklärt Unternehmenssprecherin Marcella Kugler. „In Mannheim haben wir zum Beispiel den Trassenverlauf geändert, weil die Leitung sonst durch den Lebensraum der extrem seltenen Feldhamster geführt hätte.“ Der Bauabschnitt entlang der „Panzerstraße“ sei 2022 auf geschützte Tiere und Pflanzen hin untersucht worden. Als nun der lokale Naturschützer Dresen den Käferfund meldete, forschte eine von TerranetsBW für den Trassenbau beauftragte Umweltbegleitung nach. Ergebnis: Der im Viernheimer Wald gefundene Käfer sei zwar nicht durch europäisches Recht geschützt, „aber wir ignorieren den Fund nicht“, sagt Kugler.
So habe man bereits herausgefunden, dass die Larven des Achtfleckigen Augenbocks in Totholz lebten. Laut Naturschützer Dresen braucht der Käfer dafür einen speziellen Baum: die Robinie. Im Viernheimer Wald gebe es abgestorbene Robinien aber nur entlang der „Panzerstraße“ in genau dem 400 Meter langen und 70 Meter breiten Bereich, der seit dem Krieg nicht mehr forstlich gepflegt worden und deshalb zum Urwald mutiert sei - und durch den die Gasleitung führen soll. Um diese zu bauen, müssten Bäume gefällt, ein 34 Meter breiter Arbeitsstreifen angelegt und schließlich eine zweieinhalb Meter breite Rinne für die Rohrverlegung gegraben werden. „Sofern der Achtfleckige Augenbockkäfer entlang der Trasse gefunden wird, werden entsprechende Schutzmaßnahmen geprüft und gegebenenfalls umgesetzt“, so Kugler und überlegt laut: „Vielleicht wäre es möglich, das Totholz mit den Larven ein paar Meter umzusiedeln, raus aus dem Bereich der Grabungen.“
Was am Ende genau passieren wird, sei aber noch unklar. Denn die Arbeiten an der Süddeutschen Erdgasleitung verzögern sich. Derzeit wird noch bis Ende des Jahres in Lampertheim in der Nähe des Wohngebiets Rosenstock III eine Gasdruckregel- und Messanlage gebaut. Um ein direkt daran anschließendes 500 Meter langes Stück Leitung bauen zu können, muss erst ein Planänderungsverfahren beim Regierungspräsidium Darmstadt abgewartet werden.
„Grund ist eine Zaunanlage, die wir erhalten und umgehen wollen“, erklärt Kugler. Daher wird erst 2025 das betreffende Stück Trasse gebaut werden können - und danach bis 2027 die restlichen 8,5 Kilometer durch den Wald und das Käfer-Wohnzimmer. „Kurz bevor der Bau dort losgeht, wird das Gebiet noch einmal von der Umweltbegleitung untersucht“, erklärt Kugler. Dann werde final entschieden, wie gefährdet der Käfer durch die SEL ist - und was zu seiner Rettung getan werden könne. „Ob unser Urwaldtier noch eine Chance hat?“, fragt sich Naturschützer Dresen. „Ich wünsche es ihm!“
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