Neckar-Bergstraße. Die Glieder sind schwer, das Sichtfeld eingeschränkt, Umgebungsgeräusche nur undeutlich zu vernehmen. Wenn man angesprochen wird, muss man ganz genau hinhören - oder besser noch einmal nachfragen. So geht es tagtäglich Millionen Menschen in Deutschland. Sie sind aus ganz unterschiedlichen Gründen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Wie sich das anfühlen muss, konnte man beim Aktionstag „Wirklich teilhaben?!“ im Ilvesheimer Rathaus nachempfinden - zumindest zeitweise.
Bei der vom Rhein-Neckar-Kreis organisierten Veranstaltung gab es die Möglichkeit, in einen sogenannten Altersanzug zu schlüpfen. Er besteht aus einer schweren Weste, Gewichten für Gelenke, Handschuhen, einer Halskrause, geräuschschluckenden Kopfhörern und einer Skibrille.
Liese Bechtluft vom Zentrum für Inklusion in Weinheim begleitet jene, die den Anzug testen - auch den Autoren dieses Textes. „Allein schon das Aufstehen fällt schwer, ganz zu schweigen vom Treppensteigen“, sagt sie. Wenig später zeigt sich, wie recht sie hat. Im ersten Stockwerk angekommen, pumpt das Herz wie nach einem intensiven Sprint.
Der Anzug, der Einschränkungen simuliert, sorgt für Beklemmung
Zurück im Erdgeschoss kommt man direkt in das Getümmel mit vielen verschiedenen Informationsständen. Das Gefühl, das sich recht schnell einstellt: Beklemmung. Das Sichtfeld beschränkt sich auf wenige Meter unmittelbar vor einem, rechts und links sieht man schlichtweg nichts und das Gehör ist auch keine große Hilfe. Wie muss es nur Menschen gehen, die so etwas jeden Tag empfinden? Und dann auch noch durch große Menschenmengen müssen, wie zum Beispiel an einem Bahnhof?
Behindertenbeauftragte will sensiblisieren
Auch für solche Fragen will Silke Ssymank, Behindertenbeauftragte des Rhein-Neckar-Kreises, sensibilisieren. „Nach wie vor können viele Menschen mit Behinderungen oder Einschränkungen nicht am Alltag teilhaben“, sagt sie. Sei es im Alltag oder in der Freizeit. „Es ist bedauerlich, wie viele Arbeitgeber immer noch glauben, dass ein blinder Mensch nicht bei ihnen arbeiten kann“, erklärt Ssymank, die regelmäßig in Kommunen des Kreises Veranstaltungen organisiert.
„Es kann helfen, ebensolche Altersanzüge selbst einmal zu probieren, um ein besseres Verständnis zu bekommen“, sagt die Behindertenbeauftragte. „Mit dem Aktionstag wollen wir auch einen Impuls setzen, um Barrieren abzubauen“, ergänzt der Ilvesheimer Bürgermeister Thorsten Walther (SPD). Der Badische Blinden- und Sehbehindertenverein (BBSV) hat ebenfalls einen Stand beim Ilvesheimer Aktionstag aufgebaut.
In der Nähe befindet sich ein Blinden-Parcours mit Hütchen, durch den man von Jörg Schubert vom BBSV begleitet wird. Obwohl man als Hilfsmittel einen weißen Langstock verwenden darf und Schubert hin und wieder Anweisungen gibt, fällt die Orientierung schwer. War das Hütchen nicht weiter links? Warum stoße ich denn hier schon an die Wand?
Wenn man nichts sieht, wird der Weg deutlich anstrengender
Am Ende funktioniert es schon irgendwie, doch es fühlt sich anstrengend an. Aufmunternde Worte kommen von Simone Mayer. „Sie haben das ausgezeichnet gemacht. Langsam und vorsichtig, aber sehr gut“, sagt die Mitarbeiterin aus dem Ilvesheimer Hauptamt zum geschafften „MM“-Redakteur. Sie ist im Rathaus auch mit Aufgaben rund um das Thema „Teilhabe“ betraut, hat dank Fördermitteln der Aktion Mensch das Projekt „Leichte Sprache“ für die Internetseite umsetzen können.
Zurück zum Blinden-Parcours: „Die Anstrengung, wenn man nichts sieht, ist ein ganz wichtiger Punkt“, sagt Schubert: „Man muss seine absolute Aufmerksamkeit darauf richten, was wenige Zentimeter vor einem passiert. Sehende Menschen nehmen das gar nicht so bewusst wahr.“ Vor Kurzem hatte Schubert einen Zusammenstoß mit einem Radfahrer. Dieser habe sich dabei zwar nicht an die Verkehrsregeln gehalten, doch Schubert übt auch Selbstkritik. „Ich war an dem Tag nicht eindeutig als blinder Mensch zu erkennen. Sonst hätte das vielleicht vermieden werden können.“
Behindertenverband setzt sich für Sichtbarkeit ein
Doch ist es nicht primär die Aufgabe des Radfahrenden, auf die Sicherheit des Fußgängers zu achten? Schubert will damit vor allem darauf hinweisen, dass blinde und sehbehinderte Menschen Mittel haben, um auf ihre Behinderung aufmerksam zu machen - seien es der gelbe Kreis mit drei Punkten, ein Helferhund oder der Langstock. „Manche haben da auch eine gewisse Hemmschwelle“, sagt Schuberts Kollege Christoph Graf, Bezirksgruppenleiter Mannheim beim BBSV.
Auch die Schloss-Schule Ilvesheim macht beim Aktionstag mit
Neben seinem Stand ist auch die Ilvesheimer Schloss-Schule mit einem Angebot vertreten. Ein Schüler zeigt beim Aktionstag unter anderem, wie Spiele für Menschen mit Sehbehinderung funktionieren können. Die Schloss-Schule ist eine Bildungseinrichtung für blinde und sehbehinderte Kinder.
Einschränkungen können aber auch Menschen betreffen, die lange keine Behinderung hatten - zum Beispiel im Alter. Hierzu gibt es beim Aktionstag im Ilvesheimer Rathaus auch ein vielfältiges Informationsangebot. Marcus Dannfeld vom Deutschen Roten Kreuz ist Wohnberater und befasst sich intensiv damit, wie ältere Menschen trotz körperlicher Beschwerden in ihrem Haus oder ihrer Wohnung bleiben können: „Manchmal reichen da auch kleine Dinge, wie ein zweiter Handlauf, damit man sich an beiden Seiten der Treppe festhalten kann.“
Senioren-Rat will älteren Menschen eine Stimme geben
Hilfe in diesem Bereich bietet auch der Kreisseniorenrat, dessen Erste Vorsitzende Elisabeth Sauer ebenfalls nach Ilvesheim gekommen ist. „Senioren haben mit ihren Herausforderungen und Problemen häufig keine Stimme in der Öffentlichkeit“, sagt Sauer und fügt hinzu: „Wir sind dafür da, ihnen eine Stimme zu verschaffen, arbeiten dafür in vielen Gremien und Ausschüssen mit, organisieren aber auch selbst Veranstaltungen.“
Die Stimmung beim Aktionstag in Ilvesheim ist positiv
Jene in Ilvesheim hat der Rhein-Neckar-Kreis organisiert. Und auch wenn es dabei oft um Einschränkungen und Probleme geht, die Stimmung beim Aktionstag ist positiv, bestärkend. Die Menschen dort verbindet das Ziel, mehr Teilhabe zu ermöglichen. Einer von ihnen ist Gerd Roth. Er ist taub, hört aber „wie du es tust“, sagt er. Nachdem er mehr als 40 Jahre Hörgeräte getragen habe und irgendwann „austherapiert“ gewesen sei, entschied er sich für ein Implantat. Der Fachberater für Hörakustik sagt nun: „Ich will darüber aufklären, was alles möglich ist - auch wenn man scheinbar nichts mehr geht.“
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