„Im Odenwald gibt es Hausbesuchs-patienten, da kommt niemand hin außer uns Hausärzten“, sagt Dr. Tilman Steinhausen. Der Internist spricht von bettlägerigen, alten Menschen, die bislang bei der Corona-Impfung außen vor blieben; für sie waren die Impfzentren des Rhein-Neckar-Kreises unendlich weit entfernt. Weshalb der Mediziner ergänzt: „Da müssen wir hin.“ Die Hirschberger Hausärzte schließen jetzt nicht nur diese Lücke in der Versorgung, sondern bieten den lange erwarteten Service vor Ort an.
Das Ärztehaus im Riedweg hat dafür außer der Reihe am Samstag von morgens bis zum Nachmittag geöffnet, 20 Helferinnen und acht Ärzte sind im Einsatz. Bei Dr. Andreas Mußotter in der Breitgasse wurde am vergangenen Mittwoch begonnen und von mittags bis 18 Uhr „durchgeimpft“. Wegen des regulären Betriebs hat er den sonst freien Nachmittag dafür reserviert. Er ist an diesem Samstag in die Praxis seines Kollegen gekommen, ebenso wie Apothekerin Ursula Cortelezzi, die Corona-Testungen vornimmt.
Denn jetzt hat sich „die Politik“ angekündigt; in einem Tross von Fotografen macht Landrat Stefan Dallinger die Runde, ihm folgen Gesundheitsdezernentin Doreen Kuss und Bürgermeister Ralf Gänshirt.
Sie finden lobende Worte für die Arbeit der Mediziner und mahnen regelmäßiges Testen an, bis sich das Gespräch auf die Wahl des Impfstoffes zubewegt: In den Praxen wird ausschließlich Biontech-Pfizer verwendet, erklärt Mußotter. Kuss redet dem in die Kritik geratenen Astra-Zeneca-Präparat das Wort. Sie sei überrascht, wie viele Menschen sich bewusst dafür entschieden: „Das nehmen wir in den Impfzentren wahr.“ Mußotter hat andere Erfahrungen gemacht: „Die Leute sagen, sie wollen nur den einen, aber auf keinen Fall den anderen Impfstoff.“
Keine Dosis wird entsorgt
Dallinger bekennt, nicht zu wissen, wie viele Menschen kreisweit schon geimpft sind. An Behauptungen, man würde Impfstoff-Reste wegwerfen, sei jedenfalls nichts dran; vielmehr würden Wartelisten abgearbeitet und weitere Empfänger einbestellt, wenn jemand nicht kommen könne. Was Steinhausen zu einer fundamentalen Kritik an der schleppenden Beschaffung von Impfstoff bringt. Zwar habe er 232 Dosen Biontech bestellt und auch bekommen: „Aber an einem Wochentag könnten bei uns bis zu 500 Dosen verabreicht werden, wenn der Impfstoff da wäre.“ Er muss das Material eine Woche im Voraus ordern, doch kommt längst nicht so viel, wie er bräuchte: „In der kommenden Woche sind es nicht einmal 150 Dosen.“ Dallinger beruhigt: Für das zweite Quartal seien bis zu acht Millionen Einheiten angekündigt.
Hoch emotionale Angelegenheit
Die Mediziner sind gleichwohl verunsichert über Meldungen, dass die Mengen für die Hausärzte nicht nur nicht steigen, sondern sogar noch halbiert werden sollen, um die Impfzentren besser zu versorgen. Mußotter appelliert: „Die Politik soll sich dafür einsetzen, dass es größere Mengen gibt.“ 20 Euro bekommt ein niedergelassener Arzt pro Impfung; wird zu wenig geliefert, könne er nicht mehr kostendeckend arbeiten. Dazu komme, dass das Impfen aktuell ein hoch emotionales Geschäft sei; Steinhausen und Kollege Michael Melcher weisen auf den Dauerstress hin, unter dem die Arzthelferinnen stünden, die täglich Anrufe bekämen, Frustration ertragen und Wartelisten anlegen müssten.
Mußotter erlebt Ähnliches: „Das ist ethisch schwierig, für den Einzelnen steht sein persönliches Schicksal im Vordergrund.“ Er bietet nun Impfungen mittwochs und donnerstags an, die Kollegen mittwochs und freitags. Niemand soll sich bei ihnen melden, sagt Melcher: „Wir bestellen die Leute ein.“ Bei Mußotter kann man über die Homepage eine Online-Registrierung vornehmen. Weil die Heime und fast alle ganz Alten mittlerweile versorgt sind, kommen jetzt auch Menschen zwischen 70 und 80 an die Reihe; eine Frau in diesem Alter lobt die Ärzte über den grünen Klee für ihre Arbeit.
Im Labor zeigen die Mitarbeiter, wie der Impfstoff aufbereitet wird; das Material wird in Trockeneis geliefert und kann im Kühlschrank fünf Tage gelagert werden. Jeder Behälter fasst sechs Einheiten, die mit Kochsalzlösung verdünnt und ohne Luftbläschen auf Spritzen gezogen werden. Eine bis zwei Stunden später sollte der Impfstoff am Ziel sein, also in der Blutbahn des Empfängers.
Für den Patienten ist die Behandlungszeit überschaubar, erklärt Steinhausen: „Eine halbe Stunde Aufenthalt in der Praxis, davon zehn Minuten Aufklärung, fünf Minuten Spritzen, eine Viertelstunde Nachbeobachtung.“ So ganz versteht er die derzeitige Aufregung daher nicht und bemerkt trocken: „Das ist nicht neu, wir impfen seit 50 Jahren.“
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/hirschberg_artikel,-hirschberg-aerzte-klagen-landrat-ihr-leid-wir-brauchen-mehr-impfstoff-_arid,1782866.html