Heidelberg. Demokratie ist herausfordernd – qualitativ hochwertiger Journalismus ebenso. An einem diskursfreudigen Abend im Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg (DAI) wird einmal mehr deutlich, dass zu einer freiheitlich demokratischen Grundordnung eine freie, sich selbst reflektierende Medienlandschaft gehört. Doch die Brücke zwischen Politik und Öffentlichkeit ist in diesen politisch wie gesellschaftlich turbulenten Zeiten schweren Erschütterungen ausgesetzt.
„Die Bürger hatten die Wahl – was bleibt von der Rolle der Presse als kritischer Begleiterin der politischen Entscheidungsfindungen?“ – so lautet das Thema der Serie „Europäer im Gespräch“, zu der Gastgeberin und Bundesverdienstkreuzträgerin Helga Niebusch-Gerich einlädt. Welche Erkenntnis kann nach zweieinviertel Stunden Dialog, Fragen, Antworten und Impressionen aus der Redaktion gezogen werden? Es lohnt sich, Meinungsvielfalt, Teilhabe, Toleranz, sensiblen Umgang mit Sprache, sei es schriftlich oder mündlich, Zulassen von Kritik, Zuhören, Nachdenken und Selbstkritik einen geschützten Rahmen zu geben.
Ein vielschichtiges und zuweilen kompliziertes Thema
Historisch betrachtet sind Salons frühe Netzwerktreffen. Und modernere Formen scheinen derzeit wieder eine Renaissance zu erleben. Das DAI ist Haus der Kultur, Ort des freien Geistes, Anlaufpunkt für jährlich über eine halbe Million Besucher. Umgeben von imposanten Bücherwänden wirken Gedankenaustausch, Verständigung und Streitgespräch authentisch. Und so diskutieren MM-Chefredakteur Karsten Kammholz, SWR-Studioleiterin Dagmar Schmidt und RNZ-Politikredakteur Sören Sgries als regionale Medienvertreter unter der Moderation von Herbert W. Rabl über ein vielschichtiges, zuweilen kompliziertes Sujet.
Serie „Europäer im Gespräch“
Die Serie „Europäer im Gespräch“ gibt es monatlich zu politisch und gesellschaftlich relevanten Themen.
Gastgeberin und Salongründerin ist seit 2017 Helga Niebusch-Gerich . „Europäer im Gespräch“ ist ein Projekt der Stiftung Frauenbrücke-Preis.
Jüngstes Thema war: „Die Bürger hatten die Wahl – was bleibt von der Rolle der Presse als kritische Begleiterin der politischen Entscheidungsfindungen ?“
Teilnehmer: MM-Chefredakteur Karsten Kammholz , SWR-Studioleiterin Dagmar Schmidt , RNZ-Politikredakteur Sören Sgries ; Moderation: Herbert W. Rabl .
Niebusch-Gerich gründete 1992 den gemeinnützigen Verein „Frauenbrücke Ost-West“ .
Veranstaltungsort : Deutsch-Amerikanisches Institut Heidelberg (DAI).
Infos unter www.stiftung-frauenbruecke-preis.de und dai-heidelberg.de .
jog
Alle drei Protagonisten beschreiben aus ihrem jeweiligen Blickwinkel, wie der Redaktionsalltag seit einigen Jahren aussieht. Das Gute für das 35-köpfige, überwiegend wertschätzende DAI-Publikum daran: Es sind ungeschminkte Einblicke, Einordnungen, Abgrenzungen – Widersprüche inklusive. Karsten Kammholz tut sich mit dem Begriff der vierten Gewalt schwer: „Für uns freie Verlage ist das Bild der vierten Gewalt sehr schräg“, sagt er. Längst sei man nicht mehr Gralshüter von Informationen, sondern durch die riesige Rolle von Social Media könne strenggenommen jeder Content-Creator sein, der politische Exkurs erfolge heutzutage in Echtzeit. „Medienplattformen wie Google und die sozialen Netzwerke ersetzen die klassischen Leitmedien“, so Kammholz.
„Politik findet in einer totalen Verknappung statt“
Der massive Veränderungsprozess in der Berichterstattung habe mit der Flüchtlingssituation vor zehn Jahren begonnen und sich während der Corona-Pandemie fortgesetzt. „Wir haben während Covid viel beim MM diskutiert, ob wir anderen Meinungen genügend Raum geben. Es war wahnsinnig schwer zu recherchieren. Virologen konnten den Diskurs vorgeben“, macht Kammholz aus dem Dilemma keinen Hehl. Zu den Realitäten der Bundestagswahl 2025 zählt, dass Tiktok und viral steil gehende Videos ein starkes Ergebnis für die politischen Ränder mit sich bringen. „Damit findet Politik in einer totalen Verknappung statt“, analysiert Karsten Kammholz.
Ähnlich äußert sich Dagmar Schmidt vom SWR. Sie streicht die öffentlich-rechtliche Stellung des Rundfunks heraus, rechtfertigt reichweitenstarke Formate wie beispielsweise die „Wahlarena“ bei ARD, ZDF und in den dritten Programmen, in denen Bürger in die Rolle des journalistischen Fragestellers schlüpfen. Solche Sendungen soll es auch bei den Landtagswahlen 2026 in Baden-Württemberg geben. Vor dem Hintergrund zunehmender Wirksamkeitsmacht von Influencern und Aktivisten fordert Schmidt: „Es braucht einen qualitativen Journalismus in dieser disruptiven Welt.“ Es komme in unserer Demokratie auf die Medien an, deren Objektivität, gesunde Distanz, Sorgfalt, Ideenreichtum und Informationspflicht. „Wir wollen als SWR pluralistisch berichten. Und wir müssen uns daran erinnern, dass es eine Trennung zwischen eigener Meinung und aktueller Berichterstattung gibt“, insistiert Dagmar Schmidt.
Zwischen Kosten- und Aktualisierungsdruck
Sören Sgries, seit 15 Jahren im Mediengeschäft tätig und für die Landespolitik in der RNZ zuständig, stellt eine knallige These auf: Journalismus sei „Kackarbeit“ geworden. Erstens: Die Jagd nach Clicks. Zweitens: Der Aktualisierungsdruck – Redakteure seien gerade wegen Social Media getrieben, schnell zu reagieren. Drittens: Der Kostendruck durch sinkende Auflagen und Anzeigenerlöse. „Es wird immer schwieriger – die Sorgfalt droht verloren zu gehen“, sagt Sgries, der zugleich rhetorische Fragen stellt. Welchen Erwartungshorizont haben Leser/Nutzer? Ist das Wahlergebnis die richtige Messgröße für den journalistischen Auftrag? Auf welchen Kanälen müssen Medienexperten sichtbar sein? Ist der nackte Faktenjournalismus eine Option?
Wir Medien müssen es schaffen, eine pluralistische Gesellschaft entsprechend abzubilden. Wir müssen es schaffen, als unabhängige Kraft zu agieren. Wir sind Demokratiebewahrer!
Vehement und unisono widersprechen Kammholz, Schmidt und Sgries einzelnen Einwürfen aus dem Publikum, die Medien seien nur noch Sprachrohr oder Erfüllungsorgan der Legislative, Exekutive und Judikative. Karsten Kammholz auf Nachfrage kämpferisch: „Wir Medien müssen es schaffen, eine pluralistische Gesellschaft entsprechend abzubilden. Wir müssen es schaffen, als unabhängige Kraft zu agieren. Wir sind Demokratiebewahrer!“
Mediengeschäft unter Anpassungsdruck
Der Blick in die Zukunft verrät, dass die Anforderungen im Mediengeschäft einer Herkulesaufgabe gleichen. Demokratie- und Medienbildung als Unterrichtsfach, gemeinsame Projekte mit Schulen, sinnvoller Umgang mit KI, Pop-up-Redaktionen in Innenstädten, Podcast-Festivals, Audiotheken oder etwa konkrete politische Unterstützung (Zustellförderung) – die Anpassungsnotwendigkeiten und Möglichkeiten zu innovativen Veränderungen im Medienbereich gelten als facettenreich.
Fazit des Salonabends im DAI: Unabhängige, pluralistische Medien sind der beste Anwalt für die Menschen in Deutschland. So bleibt die Demokratie herausfordernd, resilient und „salonfähig“.
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