Heidelberg. „Ich konnte nicht mehr atmen“ - die Worte der Studentin Rawan Osman hallen bedrückend nach. Als sie ihre bewegende Lebensgeschichte erzählt, hören die geladenen Politiker aufmerksam und sichtlich betroffen zu. Der Innenminister des Landes Baden-Württemberg, Thomas Strobl (CDU), und Antisemitismusbeauftragter Michael Blume haben sich bei einem Besuch an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg (HfJS) angesichts der aktuellen Ereignisse in Israel ein Bild von den Ängsten und Sorgen der Studierenden gemacht.
Antisemitismus - Komplexität und Ausmaß der Thematik sind gewaltig
Rawan Osman ist in Syrien und dem Libanon aufgewachsen, 2011 kam sie nach Europa, zog später dann nach Straßburg. Sie erzählt, wie sie in der Heimat antisemitisch erzogen wurde, wie sie nach Europa kam und von ihrer Reaktion, als sie herausfand, dass sie in Straßburg im jüdischen Viertel wohnte. „Ich bekam ein Panikattacke“, schildert sie ihre damalige Sichtweise. Strobl zeigt sich beeindruckt und bedankt sich für die Offenheit. Eines wird im Gespräch deutlich: Nicht nur in Deutschland, sondern auch in arabischen Ländern muss gegen Antisemitismus vorgegangen werden. Komplexität und Ausmaß der Thematik sind gewaltig.
Das weiß auch Osman. Ihre Vorurteile habe sie inzwischen abgelegt, sie studiert nun an der HfJS, erzählt sie. Als sie dann bei einer Mahnwache vergangene Woche von einem Syrer mit den Worten „Hitler hat alles richtig gemacht“ antisemtisch angegangen wurde, habe sie aus Wut die Initiative ergriffen. Sie eröffnete einen Tiktok-Account, auf dem sie auf Arabisch über antisemitsche Vorurteile aufklärt und das Problem an der Wurzel bekämpft. „Wie erreicht man junge Menschen, die kein Deutsch verstehen?“, sei dabei die auslösende Frage gewesen. Hierzu bittet sie den politischen Besuch um Unterstützung.
„Wir müssen in die digitalen Medien“, stimmt Blume der Studentin zu. Texte und Dialogveranstaltungen seien gut und wichtig, junge Menschen würde man damit aber kaum erreichen. Deswegen sei eine digitale Aufklärung umso wichtiger. „Wir unterstützen sie“, sichert er Osman zu. Er wäre stolz darauf, wenn er bei diesem Thema helfen könne.
Strobl: Höchste Priorität, dass Jüdinnen und Juden sicher leben können
Doch auch andere Themen treiben die Studenten und Studentinnen der HfJS beim Gespräch mit Strobl und Blume um. Vor allem seit dem 7. Oktober habe man mit Antisemitismus aus allen Spektren zu kämpfen, schildert Cornelia D´Ambrosio, Vorsitzende der Studierendenvertretung. Lukas Stadler, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule, erzählt von einem erhöhtem Gefühl der Unsicherheit an der HfJS. Dass sichtbare Maßnahmen, wie zum Beispiel Polizeipräsenz, jedoch verstärkt wurden, erkennt er an. „Ich bin froh, dass es bestimmte Bilder, die es aus anderen Ländern gibt, in Baden-Württemberg nicht gibt“, sagt Stadler.
Hochschule für jüdische Studien
- Die Hochschule für jüdische Studien (HfJS) wurde 1979 als private, staatlich anerkannte Hochschule in Heidelberg gegründet.
- Sie wird getragen vom Zentralrat der Juden in Deutschland und finanziert durch Bund und Länder. Die HfJS steht Bewerbern jeder Konfession offen, aktueller Rektor ist Werner Arnold.
- Insgesamt lehren elf Professoren, Professorinnen, Doktoranden und Doktorandinnen.
- Laut Rektor Arnold gibt es keine vergleichbare Einrichtung in Europa.
Strobl betont, dass im Land in den letzten sieben Jahren viel gegen den Antisemitismus getan wurde. Dass Jüdinnen und Juden in Baden-Württemberg sicher leben können, habe für ihn seit mehreren Jahren höchste Priorität. Auch das sei ein Grund, weshalb die Situation vielleicht besser als in anderen Bundesländern sei. Bisher habe es seit dem 7. Oktober so gut wie keine gewaltsamen Auseinandersetzungen gegeben. Die Meldungen antisemitischer Straftaten würden sich im niedrigen dreistelligen Bereich bewegen. „Ich merke, dass Baden-Württemberg zusammenrückt“, ergänzt Blume.
Die Studierenden der HfJS sorgen sich auch um, wie D´Ambrosio es nennt, progressiven Antisemitismus. „Linker Antisemitismus“, erklärt Blume. Dabei ist vor allem die „Fridays for Future“-Organisation rund um Greta Thunberg Thema, die mit antisemitischen Äußerungen und Postings auf sich aufmerksam gemacht hat. Was tut die Regierungen dagegen, will die Studentin wissen. „Auch da müssen wir eingreifen“, stellt Blume klar.
Traditionelle jüdische Hochschule Beth Midrasch
Zuvor besichtigte der Besuch gemeinsam mit Rektor Werner Arnold und Verwaltungsleiterin Caroline Kiss die Bibliothek sowie die Beth Midrasch, eine traditionelle jüdische Hochschule. „Die Bibliothek ist das Herzstück der Hochschule. Hier kann man lebendiges, jüdisches und interkulturelles Leben zelebrieren“, erklärt Kiss. Sie wünsche sich mehr politische Unterstützung, um Lehrkräfte fortzubilden, um schon in der Grundschule über das jüdische Leben aufzuklären. Strobl stimmt ihr zu.
In der Beth Midrasch präsentiert Hochschulrabiner Shaul Friberg stolz die Tora. Strobl und Blume, die mit Kippa am Tisch sitzen, sind beeindruckt. „Es gibt noch so viel zu entdecken zwischen den Religionen“, sagt Blume. Friberg hat indes einen Wunsch an die Gesellschaft. Sie solle wie ein Obstsalat sein - durchmischt, aber dennoch aus einzelnen, erkennbaren Bestandteilen zusammengesetzt.
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