Sinsheim. Irgendetwas fehlt hier, wenn man hochschaut. Die Sandsteinsäule vor dem Sinsheimer Rathaus sieht aus, als wäre sie abgebrochen – aber das vom ersten Tag an. Das Kunstwerk von Bildhauer Hans-Michael Franke, 1998 anlässlich des 150-jährigen Gedenkens an die Badischen Revolution von 1848/49 gestaltet, hat aber bewusst keine Spitze – denn auch der Kampf der Sinsheimer Revolutionäre für die Demokratie ist ja unvollendet geblieben. Genau wie der Obelisk, der daran erinnert.
Ein kleines Dorf als Schauplatz einer Revolution? Sinsheim ist der Beweis, dass auch kleinere Orte einen wichtigen Beitrag zur Demokratiebewegung leisteten. Und das 1946 im alten Rathaus gegründete Stadtmuseum zeigt nicht nur in einer hübschen Ausstellung altes Handwerk, sondern auch den Beitrag des Kraichgaus zur Revolution in Baden.
Einst eine der ältesten Reichsstädte Süddeutschlands, hat Sinsheim um 1845 um die 3000 Einwohner. Es ist eine kleine Amtsstadt des Großherzogtums Baden. Ein gelb-rotes Wachhäuschen und eine Puppe mit Zöllneruniform stehen in dem Museum dafür, dass seit Napoleons Neuordnung des Südwestens 1806 der einst kurpfälzische Kraichgau nun zu Baden gehört. Das Umland ist landwirtschaftlich geprägt, in der Amtsstadt leben kleine Handwerker. Es herrscht viel Armut.
Der Pauperismus, also die zunehmende Verelendung großer Bevölkerungsteile in der Zeit der beginnenden Industrialisierung, habe für „große soziale Sprengkraft gesorgt“, sagt Dario Miericke, der Leiter des Stadtmuseums, wenn man ihn danach fragt, wie es in der doch eher dörflichen Umgebung zur Revolution kommen kann. Zudem habe Sinsheim „genug Hinterland gehabt“ und sei klein genug gewesen, „um nicht permanent unter Beobachtung zu stehen, aber doch mit genügend kleinstädtischer Infrastruktur, um sich zu treffen“.
Mit Gewehren und Sensen ziehen die Sinsheimer nach Heidelberg
Und diese Treffen, bei denen sich die Bürger für die Ideen der Französischen Revolution begeistern, finden nicht nur in den vielen Gasthäusern statt. Sogar im Rathaus selbst tagen, bereits ab Januar 1848, die Demokraten – was die großherzoglichen Behörden erzürnt.
Wortführer ist Gustav Mayer (1810-1852), angesehener und einflussreicher Apotheker. Als die badische Regierung die Gründung von Bürgerwehren mit polizeilichen Aufgaben zulässt und damit den Wunsch nach Volksbewaffnung – eine der Forderungen beim „Hambacher Fest“ 1832 – erfüllt, gelingt es Mayer, für Sinsheim 200 Gewehre aus den Beständen des badischen Zeughauses Karlsruhe für Sinsheim zu bekommen – obwohl die Bürgerwehr tatsächlich viel kleiner ist.
Als dann im Februar 1848 der französische König abgesetzt wird, fordern immer mehr Bürger auch vom badischen Großherzog Reformen: Die „Märzrevolution“ bricht aus. Das geht schon im Februar 1848 in Mannheim los, erstreckt sich auf Karlsruhe und bis an den Bodensee, wo am 13. April in Konstanz der „Heckerzug“ nach Karlsruhe startet.
Hecker, Rechtsanwalt und Gemeinderat in Mannheim, stammt aus Eichtersheim in der Nähe von Sinsheim und ist dort daher wohl bekannt. Aber was tatsächlich den revolutionären Funken auch im Kraichgau überspringen lässt, ist laut Miericke „noch nicht ganz aufgeklärt“. Jedenfalls werden am Ostermontag, 24. April 1848, in dem Ort um 3 Uhr in der Früh Gewehrsalven abgefeuert. Mayer ruft vom Sinsheimer Rathaus aus, einem heute schön restaurierten Fachwerkbau, um 5 Uhr die Demokratische Republik aus und schart Bewaffnete um sich. Mit Gewehren, Säbeln, Sensen und Dreschflegeln ziehen dann etwa 250 Sinsheimer nach Heidelberg, in der Hoffnung, dort auf Heckers Männer zu treffen und mit ihnen auch dort für die große Revolution zu sorgen.
„Tragisch nur, dass es damals noch keine Smartphones gab“, sagt Dario Miericke ironisch. Als die Sinsheimer nach Heidelberg ziehen, ist Heckers viel größerer Marsch längst im Gefecht bei Kandern am Fuß des Südschwarzwalds gescheitert. Vielleicht, so mutmaßt der Museumsleiter, sei die Sinsheimer Aktion auch von den Freunden Heckers als Entlastung und Ablenkung der Badischen Truppen gedacht gewesen: „Womöglich wollte man einen zweiten Brandherd schaffen, die Truppen aufsplitten, aber es hat nicht geklappt“. Die Revolutionäre aus Sinsheim werden auf dem Heidelberger Marktplatz umstellt und entwaffnet, denn bei den Bürgern und Professoren haben sie keinen Rückhalt. Viele werden verhaftet, einige fliehen in die Schweiz oder nach Frankreich.
Ein Sandstein-Obelisk mit schönem Symbolgehalt
Beim zweiten badischen Aufstand 1849 machen die Sinsheimer einen erneuten Versuch. Mayer, gerade aus dem Exil zurück, fungiert als Zivilkommissär. Er setzt gegenüber den großherzoglichen Bediensteten vor Ort den Willen der Karlsruher Revolutionsregierung durch und organisiert den Kampf der Bürgerwehren gegen die von Preußen dominierten Bundestruppen.
Als die Revolutionäre im Juli 1849 bei Waghäusel von den vorwiegend preußischen Bundestruppen geschlagen werden, können sie sich über Heidelberg nach Sinsheim zurückziehen. Franz Sigel, in Sinsheim geborener General der Revolutionsarmee, hält die Stellung – aber nicht lange. „Auch dieser Anlauf zur Revolution scheitert“, so Miericke, letztlich ebenso mangels breitem Rückhalt in der Bevölkerung. Die sei zu sehr damit beschäftigt gewesen, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, statt für freiheitliche Forderungen einzutreten.
Das Denkmal für die Freiheit vor dem Sinsheimer Rathaus zeigt mit Relief-Porträts die fünf bedeutendsten Sinsheimer Kämpfer für Demokratie: Friedrich Hecker, Gustav Mayer, Franz Sigel, Karl Bauer und Eduard Speiser. Zudem umgibt den Sandstein-Obelisk ein Band mit den Worten: „Für Freiheit, Recht und Einigkeit 1848/1998“. Die bewusst unvollendete Spitze habe „einen schönen Symbolgehalt“, so der Museumsleiter. Er stehe nicht nur für die unvollendete Revolution, sondern sei „auch ein Zeichen der Hoffnung, dass man nicht aufgeben darf“ und ein Symbol dafür, dass heute weiter um Freiheit, Recht und Einigkeit gerungen werden müsse.
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