Heidelberg - Gunther von Hagens, der Erfinder der Plastination, wollte die Anatomie auch Laien öffnen / Kritiker sehen darin vor allem Sensationslust bedient

Spannende Aufklärung oder mangelnder Respekt?

Von 
Michaela Roßner und Julia Wadle
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Sollte man plastinierte Körper öffentlich ausstellen? Und ist es nicht reine Sensationslust, die Leichen in bestimmten Posen zu zeigen? Auch zwanzig Jahre nach der ersten „Körperwelten“-Schau in der Region wird über diese Fragen kontrovers diskutiert.

Pro

Fotos allein können nicht wiedergeben, was für ein Wunder der Natur ein Organismus ist. Das gilt ganz besonders für ein großes Lebewesen wie zum Beispiel den Menschen. Selbst hochtechnische Computeranimation vermag nur teilweise diese faszinierende Perfektion des Körpers und seiner Funktionen dazustellen. Das Gleiche gilt für dreidimensionale Nachbildungen aus Kunststoff.
Bis zum Start der „Körperwelten“ Ende der 1990er Jahre bleib der Blick in das Innere des menschlichen Körpers seit dem 19. Jahrhundert Anatomiestudenten und Ärzten vorbehalten. Dass das Interesse auch bei Laien groß ist, zeigten schon zu Beginn lange Schlangen und Öffnungszeiten des Mannheimer Landesmuseums für Technik 1997. Sie wurden in die Nacht ausgeweitet, um allen den Eintritt zu ermöglichen. Den Millionen von Besuchern, die seither weltweit „Körperwelten“-Ausstellungen angesehen haben, Sensationslust zu unterstellen, läge daneben.
Zu jeder Ausstellung gehört nicht nur ein ausführliches Begleitmaterial zum Beispiel für Schulklassen. Auch Vorträge und Diskussionen sind Teil der Ausstellungen. Kritiker reiben sich vor allem an den großen Ganzkörperplastinaten, die Menschen in Posen zeigen – auf einem Pferd reitend oder beim Sex etwa. Sie sind ganz sicher nicht jedermanns Geschmack. Aber das kann – zum Glück – jeder für sich entscheiden. (Von Michaela Roßner)

 

Kontra

 

Jeder, der schon einmal ein Original von da Vinci, van Gogh oder Monet gesehen hat, kennt die Szene: Besucher drängeln sich nach vorne, machen einen schnellen Schnappschuss, posten ihn in sozialen Netzwerken und gehen dann rasch weiter. Ehrfurcht vor dem Gezeigten, kritisches Betrachten oder Nachdenken scheint vielen Besuchern fremd zu sein.
Ein menschlicher Körper ist komplizierter als jedes Gemälde: Ohne ausführliche Erklärungen und eine gewisse medizinische Vorbildung können die Exponate keinen Wissendurst befriedigen, sondern nur die Sensationsgeilheit der Besucher. Für einen pädagogischen Effekt braucht es keine plastinierten Muskelstränge – wer sich wirklich für den Aufbau des Körpers interessiert, würde sich auch ein Modell ansehen. Denn die zweifelhaften Posen der plastinierten Leichen, etwa beim Skateboarden, geben den Besuchern keinen Einblick in das komplizierte Zusammenspiel der Muskeln, sondern zeugen von mangelndem Respekt.
Der Mensch, dessen Leiche zum Exponat wurde, droht vor der effekthascherischen Darstellung verloren zu gehen. Im Leben war er oder sie Kind, Freund, Kollege, Bekannte, vielleicht Mutter oder Vater – jetzt nur noch ein lustiges Foto für Freunde und Follower. Sensationslust im Namen der Wissenschaft muss nicht sein. (Von Julia Wadle)

Redaktion Redakteurin Metropolregion/Heidelberg

Redaktion Projektredakteurin Digitales und Innovation

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