Schifferstadt. 26877 - es ist eine banale Zahl, die den Schrecken von Auschwitz bis heute bezeugt. Tätowiert ist diese Ziffernfolge auf den Unterarm von Eva Szepesi. Die 91-jährige Frau, die heute in Frankfurt lebt, spricht am Dienstag auf Einladung von Schulleiterin Monika Kleinschnitger (Gymnasium) und Fachschaftsleiter Jörg Treutle (Realschule Plus) vor Schülern des Schifferstadter Schulzentrums Paul von Denis. Szepesi erzählt von einer zunächst unbeschwerten Kindheit in Ungarns Hauptstadt Budapest. Sie berichtet von der unerfüllten Hoffnung, dass die eigene jüdische Familie der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und dem Tod in der Gaskammer entrinnen könne. Und sie erinnert sich, wie sie es nach vielen Tagen zwischen Leichen schafft, der Tötungsmaschinerie von Auschwitz-Birkenau lebend zu entkommen. Ein russischer Soldat mit rotem Stern auf der Fellmütze rettet sie am Tag der Befreiung des Lagers. Szepesi ist eines von insgesamt nur rund 400 Kindern, die die Haft in einem der Vernichtungslager überleben.
Jahrzehntelanges Schweigen
Jahrzehntelang schweigt die spätere Näherin, die als Mädchen den schönen Nachnamen Diamant trägt, über ihre Erinnerungen an die drei Monate in Auschwitz. Erst zum 50. Jahrestag der Befreiung 1995 stellt sie sich ihrer sehr schmerzvollen Vergangenheit. Damals anlässlich der Veröffentlichung von Steven Spielbergs Spielfilm Schindlers Liste. Ihre Töchter überreden sie zu der Reise in die Vergangenheit. In Auschwitz spricht Szepesi damals vor Jugendlichen aus der jüdischen Gemeinde erstmals über ihre Zeit im Konzentrationslager.
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„Ich tue das für die Ermordeten und für alle, die stumm gemacht worden sind“, sagt Szepesi am Dienstag. Seit den 50er Jahren lebt sie in Deutschland - im Land der Täter, im Land derjenigen, die für den Tod eines sehr großen Teils ihrer Familie verantwortlich sind.
Häftlingsnummer in Arm tätowiert
Es klinge anders als im Schulunterricht, wenn die Person neben einem sitzt, die das Unvorstellbare selbst erlebt hat. Das zumindest drückt Gymnasiastin Hannah aus, nachdem sie rund 50 Mitschülern eine Passage aus dem Buch vorgelesen hat, das Eva Szepesi im Jahr 2011 veröffentlicht hat. Acht weitere Stationen werden von Schülern episodisch vorgetragen.
Szepesi gehört zu den letzten Zeitzeugen, die sich regelmäßig zu Schulklassen in ganz Deutschland aufmachen, um dort die Botschaft am Leben zu halten, dass sich ein solcher Genozid nie mehr wiederholen darf. Szepesi bereut heute sehr, nicht früher über den Holocaust geredet zu haben - auch nicht mit ihrem im Jahr 1993 verstorbenen Mann Andor.
Ihre Autobiographie mit dem Titel „Mädchen allein auf der Flucht“ erzählt die Lebensgeschichte eines Kindes, das im Alter von elf Jahren von Nazis in einem Waldversteck entdeckt und später von einem Sammellager aus mit dem letzten Transport nach Auschwitz gebracht wird. Bis heute verspürt Szepesi große Angst in engen Räumen, meidet grundsätzlich Aufzüge. Sie schildert, wie ihr im Vernichtungslager zunächst die Zöpfe abgeschnitten und die Schamhaare rasiert werden. Eva Szepesi ist zwölf Jahre alt, als eine slowakische Aufseherin ihr in Auschwitz den Hinweis gibt, sich als 16-jährige auszugeben.
Weil sie dadurch als arbeitsfähig angesehen wird, bekommt sie die eingangs genannte Tätowierung mit der Zahl 26877. Warum sie „das Tattoo“ nicht habe wegmachen lassen, will ein Schüler von ihr wissen. Die Frankfurterin erklärt, dass sie die Häftlingsnummer heute nicht störe, sie aber früher zu einem Zeichen für das Leben geworden sei. Wer eine Nummer bekam, der wurde zunächst nicht vergast.
Quälende Frage: „Wo war Gott?“
Aber noch etwas anderes beweist die Ziffernfolge auf Szepesis Arm. Der Holocaust - von nicht wenigen Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern heute geleugnet - ist real. Er hat sichtbare und unsichtbare Spuren hinterlassen. Auf der Haut und auf der Seele.
„Haben Sie nie den Glauben verloren?“, will eine Schülerin von Szepesi wissen. Sie zögert kurz. „Wo war Gott?“, habe sie sich oft gefragt. Ihr Glaube sei mit den Jahren „gebröckelt“. Nach der Befreiung kommt die 13-Jährige zurück nach Ungarn, wo ihr Onkel sie erwartet. Über das Schicksal der Mutter und des kleinen Bruders wird kaum gesprochen. Nur soviel: „Sie wird eines Tages zurückkommen.“ Es ist eine Floskel, ein Selbstbetrug, um das eigene Leben annehmen zu können, denn schon am Tag nach der Heimkehr aus Lager und Lazarett muss Eva Diamant wieder zur Schule gehen. Ihren Vater hat sie drei Jahre zuvor letztmals gesehen. Er sei zum Arbeitsdienst nach Belarus geschickt worden, heißt es. Er kehrt nie mehr zurück.
„Ich möchte Ihnen meinen größten Respekt aussprechen“, sagt eine Schülerin in das Mikrofon und verbeugt sich am Ende der 90 Minuten vor dem Mut der 91-jährigen Holocaust-Überlebenden. „Ich habe lange versucht, alles zu verdrängen“, gibt Szepesi zu, die nach eigener Aussage im Nachkriegsdeutschland keine persönlichen Antisemitismus-Erfahrungen mehr machen musste. Geschichte dürfe sich nicht wiederholen. Dafür brauche es Bildung.
Dass ihre Mutter und ihr Bruder schon vor ihrer eigenen Ankunft im Lager ermordet worden sind, erfährt Szepesi erst bei einem weiteren Besuch in Auschwitz im Jahr 2016 anhand einer Namensliste.
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