Justiz

Opferanwalt Wolfram Schädler: "Gerechtigkeit ist für mich das höchste Gut"

Jahrelang kämpfte der Wormser Rechtsanwalt Wolfram Schädler für Gerechtigkeit in einem Mordfall aus dem Jahr 1981. Dies führte ihn bis vor das Bundesverfassungsgericht. Ein Gespräch über Recht und Gerechtigkeit

Von 
Agnes Polewka
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© Getty Images

Worms. Wolfram Schädler hat die Bundesanwaltschaft in aufsehenerregenden Verfahren vertreten, etwa im Fall Harry Wörz, der als Justizskandal Schlagzeilen machte, oder im sogenannten Wildmoser-Prozess, bei dem es um Korruptionsvorwürfe beim Bau der Münchener Allianz Arena ging. Seit Jahrzehnten begleitet Schädler, der seine Rechtsanwaltskanzlei in Worms führt, den Fall der ermordeten Frederike von Möhlmann. Ihr mutmaßlicher Mörder wurde 1982 verurteilt, dann hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf. Schädler und der Vater der Jugendlichen kämpften für einen neuen Prozess, nachdem neue DNA-Spuren aufgetaucht waren, die auf den gleichen Täter hinwiesen – vergebens. Ende Oktober traf das Bundesverfassungsgericht eine umstrittene Grundsatzentscheidung: Wer einmal freigesprochen wurde, darf nicht noch einmal vor Gericht gestellt werden – auch dann nicht, wenn neue belastende Beweise für ein schweres Verbrechen vorliegen, das nicht verjährt. Im Interview spricht der ehemalige Bundesanwalt über Recht und Gerechtigkeit.

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Herr Dr. Schädler, wie definieren Sie Gerechtigkeit?

Wolfram Schädler: Gerechtigkeit ist für mich das höchste Gut, sie steht für mich über allem. Gerechtigkeit ist das Vermeiden von Ungerechtigkeit. Wir spüren schnell, wenn wir Entscheidungen als nicht gerecht empfinden. Gerechte Entscheidungen akzeptieren wir aber ohne größeres Aufsehen. Ich glaube, in uns allen wohnt eine Art Sensor, der uns anzeigt, ob etwas gerecht ist oder nicht. Er speist sich aus unserer Erziehung, Erfahrungen und aus persönlichen Erlebnissen. Ich selbst habe von meiner Mutter gelernt, auf Gerechtigkeit zu achten, deshalb habe ich diesen Beruf gewählt. Wir versuchen ja, mit unseren Prozessen der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen, wir wollen Gerechtigkeit erringen.

Das haben Sie auch für Familie von Möhlmann versucht. Vor 42 Jahren starb die 17-jährige Frederike von Möhlmann. Frederikes Vater hat jahrzehntelang für Gerechtigkeit gekämpft – bis zu seinem Tod. Er wollte den mutmaßlichen Täter vor Gericht sehen. Das Bundesverfassungsgericht hat das nun nahezu unmöglich gemacht. Was hat dieser Entscheid mit Ihnen gemacht?

Schädler: Als ich da rausgekommen bin, habe ich gesagt: Das ist kein Tag der Gerechtigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat selbst ausdrücklich betont, dass der Rechtsfrieden in dieser Entscheidung über der Gerechtigkeit steht. Und ich kann diese Entscheidung wirklich nicht nachvollziehen. Wir können doch nicht sagen, dass wir viele falsche Urteile stehen lassen, um den Rechtsfrieden zu wahren. Ein Gericht soll Schranken einsetzen, natürlich. Aber hier verläuft die Grenze doch ganz klar: Der Gesetzgeber hat mal gesagt: Bei besonders schweren Delikten gilt Gerechtigkeit vor Rechtsfrieden. Sie verjähren nicht. Warum sollte man das also nicht zu Ende denken?

Der Fall Frederike von Möhlmann

Anfang November 1981 starb die 17-jährige Frederike von Möhlmann aus dem niedersächsischen Hambühren bei Celle. Die Jugendliche verschwand auf dem Heimweg vom Musikunterricht, vier Tage später fand man ihren Leichnam in einem Waldstück. Frederike von Möhlmann wurde vergewaltigt und ermordet.

Der mutmaßliche Täter Ismet H. wurde 1982 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hob das Urteil auf, das Verfahren wurde neu aufgerollt und Ismet H. freigesprochen, weil die Beweislage zu lückenhaft war.

Fast drei Jahrzehnte später untersuchten Ermittler die alten Beweisstücke erneut – und fanden eine DNA-Spur, die sie wieder zu Ismet H. führte. Doch zu einem neuen Prozess kam es 2012 nicht. Ursächlich dafür war ein Pfeiler unserer Rechtsordnung: der Grundsatz „Ne bis in idem“ (lat. nicht zweimal in derselben Sache). Wer einmal wegen einer möglichen Straftat freigesprochen wurde, darf nicht erneut wegen dieser Tat vor Gericht gestellt werden. Die Regelung ist sogar im Grundgesetz verankert und soll dem Rechtsfrieden dienen. Denn: Wer einmal freigesprochen wurde, soll darauf vertrauen können, dass dieser Freispruch Bestand hat.

Doch der Vater der ermordeten Frederike von Möhlmann kämpfte gemeinsam mit seinem Anwalt Wolfram Schädler, der heute in Worms als Rechtsanwalt ansässig ist, für eine Verurteilung des mutmaßlichen Täters und forderte eine Gesetzesänderung.

Von Möhlmann sammelte Unterschriften für eine Petition, die rund 180 000 Menschen unterschrieben. Mit Erfolg: 2021 beschloss der Bundestag eine Änderung des Gesetzes. Darin hieß es: Liegen neue Beweise vor, kann ein mutmaßlicher Täter – im Falle schwerer Verbrechen, die nicht verjähren, dazu zählen etwa Mord und Kriegsverbrechen – vor Gericht gestellt werden.

Ismet H. kam in U-Haft, ein neuer Prozess sollte terminiert werden, doch Ismet H. legte Verfassungsbeschwerde ein – und kam aus der U-Haft frei. Das Bundesverfassungsgericht musste darauf eine grundsätzliche Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Änderung der Strafprozessordnung treffen. Dies tat es Ende Oktober dieses Jahres – und kassierte das Gesetz.

Trotz neuer Beweislast wird sich Ismet H. nicht erneut vor Gericht verantworten müssen. 

Mitunter aus historischen Gründen?

Schädler: Sieben von 37 Staaten in Europa handhaben das so, wie wir es tun. Alle anderen sagen, wir lassen neue Beweise zu, wenn sie sicher dazu führen, dass ein mutmaßlicher Täter verurteilt wird. Wir tun das nicht, weil wir natürlich immer noch unsere Geschichte mit uns herumtragen. Dazu muss man auch stehen. Aber ich habe in der Hauptverhandlung auch gesagt, dass die NS-Zeit nun mehr als 70 Jahre zurückliegt und wir inzwischen nachwachsende Richtergenerationen haben. Wenn wir jetzt nicht so viel Vertrauen in unsere Demokratie haben, dass wir sagen können, die Gerichte sind davor gefeit, wahllos Urteile zu verschärfen und à la Roland Freisler (Anm. der Redaktion: Freisler gilt als bekanntester Strafrichter der NS-Zeit und als Inbegriff der Unrechtsjustiz) die Wahrheit auf den Kopf zu stellen, dann sind wir im falschen Land.

Und doch gibt es einige Befürworter dieser Entscheidung, vor allem in der akademischen Welt. Aber mindestens genauso viel Empörung. Wie weit darf sich der Rechtsstaat Ihrer Ansicht nach von der Bevölkerung entfernen?

Schädler: Er darf sich schon entfernen. Aber umgekehrt gesprochen ist es doch ein optimales Ergebnis, wenn unsere Gerichte von der Zustimmung der Bevölkerung getragen werden. Ich glaube nicht, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit dieser Entscheidung einen guten Dienst erwiesen hat, was sein Ansehen bei der übrigen Rechtsgemeinschaft betrifft. Ich kriege ja sehr viele Mails zu dem Themenkomplex, eine Oberärztin aus Mannheim hat mir einen wunderbaren Brief geschrieben und der Tenor war: Wie kann sich die Juristerei so weit vom wissenschaftlichen Fortschritt entfernen? Wie kann es sein, dass sie sich diesen nicht zunutze macht? Was kann man da tun?

Wolfram Schädler

  • Wolfram Schädler (75) arbeitet in Worms als Rechtsanwalt – schwerpunktmäßig in den Bereichen Nebenklage, Opferanwalt und Revisionen.
  • 2003 bis 2013 wirkte er bei der Generalbundesanwaltschaft (GBA) beim Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe und wurde dort 2004 zum Bundesanwalt beim BGH ernannt.
  • Als Bundesanwalt war er für Revisionen in Strafsachen zuständig. In dieser Funktion vertrat er für die Bundesanwaltschaft auch bundesweit spektakuläre Verfahren im Bereich der Tötungsdelikte. Dazu zählte etwa der Fall Harry Wörz, einer der tragischsten Justizirrtümer der vergangenen Jahre.
  • Einer seiner spektakulärsten Fälle ist der Fall Frederike von Möhlmann, der das Bundesverfassungsgericht Ende Oktober zu einer Grundsatzentscheidung bewog.

Was kann man denn da tun? Was können Sie noch für die Familie von Möhlmann tun?

Schädler: Für Familie von Möhlmann gibt es keine Chance mehr auf ein neues Verfahren, außer der mutmaßliche Täter gesteht. Wer weiß, vielleicht hat er schon einmal etwas Unvorsichtiges gesagt, das würde reichen. Dann müssten wir das nur noch dingfest machen.

Sie geben also nicht auf?

Schädler: Einem Pfarrer, der mir nach der Entscheidung geschrieben hat und der unbedingt auch etwas tun wollte, habe ich geschrieben: Das ist der Moment, in dem wir innehalten und Kräfte sammeln müssen. Wir müssen schauen, was wir noch machen können. Und ich habe ihm weitergeschrieben: Ich würde mich freuen, wenn Sie unsere weitere Arbeit an diesem Fall in Ihr Gebet einschließen. Das würde ich persönlich durchaus als Unterstützung empfinden.

Was haben diese vielen Rückschläge mit den Angehörigen gemacht?

Schädler: Sie machen sich keine Vorstellung davon, was dieser Kerl der Familie angetan hat, wie er sie regelrecht zertrümmert hat, das geht bis in die dritte Generation hinein. Deswegen bleibe ich auch dabei und versuche, ihn zu kriegen.

Wie sind Sie zu dem Fall gekommen?

Schädler: Gisela Friedrichsen, die lange Gerichtsreporterin beim „Spiegel“ war, hat Post von Herrn von Möhlmann bekommen und sie hat mir dann geschrieben: Ist das was für dich? Und dann war ich mit meiner Frau in Meran im Urlaub, es hat geregnet, und dann schellte mein Handy. Hier ist Hans von Möhlmann, sagte eine Stimme. Und ich sagte dann zu ihm: Ich weiß, wer Sie sind. Und dann kam er zu mir in mein Büro, das damals noch in Wiesbaden war. So haben wir angefangen.

Und so sind Sie zu einem der spektakulärsten Fälle Ihrer Karriere gekommen.

Schädler: Ja, dazu zählt er definitiv. Das mache ich pro bono, aber es ist auch ein ungeheures Privileg, einen solchen Fall begleiten zu dürfen.

Welche anderen Fälle sind Ihnen in Erinnerung geblieben?

Schädler: Ich war ja Bundesanwalt. Wildmoser, Harry Wörz, und natürlich Marie-Luise Jung, die bei einem Amoklauf an der Heidelberger Universität gestorben ist. Das ist auch eine der wenigen Familien, zu denen ich privat Kontakt halte. Wenn Sie Opferanwalt sind, bekommen Sie schnell mehr zurück, als wenn Sie böse Buben verteidigen.

Sie vertreten häufig Menschen, denen schlimme Dinge widerfahren sind, oder deren Angehörige. Müssen ihre Rechte gestärkt werden?

Schädler: Wir haben ja sehr viele Gesetze für die Opfer, 1986 gab es das erste Opferschutzgesetz, aber Sie erleben immer wieder, dass Opfer zum Beispiel als Nebenkläger in Verhandlungen in den entscheidenden Punkten machtlos sind. Zum Beispiel beim Deal, da müssen sie nicht gefragt werden. Wenn der Vorsitzende gut ist, fragt er sie trotzdem. Und wenn er sehr gut ist, bezieht er die Belange des Opfers mit ein. Aber das muss er nicht. Oder Paragraf 153a der Strafprozessordnung, eine der am häufigsten gebrauchten Vorschriften ohne Zustimmung des Opfers: die vorläufige Einstellung eines Verfahrens.

Bringt Sie das manchmal zur Verzweiflung?

Schädler: Nö. Das passt nicht so zu mir. Ich bin ein tiefoptimistischer Mensch, das habe ich von meiner Mutter. Auch jetzt, nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, verliere ich den Optimismus nicht, dass wir den Mörder von Frederike kriegen.

Hat ihr Vertrauen in den Rechtsstaat zuletzt Schaden genommen?

Schädler: Nein, ich bin ich ein großer Fan des Rechtsstaats, wie wir ihn haben und das wird sich auch nicht ändern. Das wird sich überhaupt nicht ändern.

Redaktion

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