Heidelberg. Reger Austausch und gegenseitige Unterstützung sind Bedingung im Gemeinschafts-Wohnprojekt „WoGe“ in der Heidelberger Südstadt. Hier gibt es für alles eine Arbeitsgruppe: für die Form der Kommunikation der Bewohner untereinander, für die Gartengestaltung und -pflege, für das Kulturprogramm… Dazu kommen viele Treffen. Vor fünf Jahren unterzeichneten die ersten Eigentümer die Kaufverträge, inzwischen leben 75 Erwachsene und 31 Kinder hier.
Eine Warteliste gibt es nicht: „Wir wollen alle hierbleiben“, begründen Ute Straub und Sabine Bartels. Wir haben sie und das ungewöhnliche Projekt besucht. Kaffeetrinken im blühenden und grünen Innenhof der drei vor rund drei Jahren bezogenen Gebäude.
Nachbarn mit umgezogen
Viele Heidelberger sind hier auf die Konversionsfläche Mark Twain Village gezogen – aber das Konzept lockte genauso einige Menschen her, die bislang noch gar keinen Bezug zu Heidelberg hatten. Andere sind ehemalige Nachbarn, etwa aus der Weststadt, kennen sich zum Teil schon mehrere Jahrzehnte. Was sie dazu gebracht hat, das Abenteuer eines zum Teil bebauten Grundstücks anzunehmen und mit Gleichgesinnten den Abriss eines alten Wohnblocks, die Sanierung eines weiteren und zwei Neubauten gemeinschaftlich zu realisieren? „Wir wollten alle nicht eines Tages ins Pflegeheim müssen“, sagt Straub unumwunden. Sie selbst hat die meiste Zeit ihres Lebens in Wohngemeinschaften gelebt.
Mehrere Gemeinschaftsräume
Nach der Familienphase und – als die Kinder aus dem Haus waren – einer kurzen Paarphase zog es sie mit ihrem Mann in die „WoGe“. Jede Partei hat eine eigene Wohnung, dazu kommen Gemeinschaftseinrichtungen wie die Küche und der Saal, Waschküche und Werkstatt. „Es braucht ja nicht jeder seine eigene Säge oder Bohrmaschine“, erklären die beiden Bewohnerinnen.
Zehn gemeinschaftliche Wohnprojekte sind in den vergangenen Jahren in Heidelberg – vor allem in der Südstadt – entstanden. Das Zusammenleben gestalten sie jeweils ganz unterschiedlich: vom genossenschaftlichen Wohnen über einen Verein, der das Gebäude anmietet und weitergibt, bis zum selbstverwalteten und -gebauten Studierendenwohnheim Collegium Academicum (CA).
„Wir haben uns als einzige für das Wohnungseigentümer-Modell entschieden“, erklärt Straub. Das brachte vor allem in der Bauphase ganz eigene Herausforderungen mit sich. Lange habe man zum Beispiel über die Frage diskutiert und gestritten, ob der Garten komplett und zum Bezug der Wohnungen fertig sein soll, oder erst nach und nach in Eigenleistung entstehen soll. „Jeder musste hier eine Kröte schlucken“, gibt Straub mit Blick auf zum Teil auch zermürbende Diskussionen zu. Sie selbst hätte den Park lieber langsam wachsen lassen.
Es gibt zwar keine exakt festgelegten Pflichtstunden, die jeder für die Gemeinschaft leisten müsste – aber die Bereitschaft, sich einzubringen, ist eine Grundbedingung. „Natürlich haben etwa berufstätige Mütter weniger Zeit als wir Rentnerinnen – dafür müssen sie uns dann später mehr betüdeln“, sagt Bartels und meint das nicht ganz ernst. Und wer wohnt hier? Das Ziel, eine ganz breite Vielfalt an Berufen ins Haus zu holen, ist nicht ganz geschafft; „Es sind schon überproportional viele Lehrerinnen und Psychologinnen hier“, räumen die beiden Frauen ein.
Bewerbungsverfahren komplex
Damit die Bewohnerinnen oder Bewohner auch in die Gemeinschaft passen, sind sie „handverlesen“. Dazu gehörten unter anderem Hausbesuche: „Wir wollten schließlich sehen, wie unsere künftigen Nachbarn leben und welche Dinge ihnen wichtig sind“, erklärt Straub.
Ob Finanzen, EDV-Organisation, Energiefragen, Organisation der Gemeinschaftsräume oder Einbringen in städtischen Gremien: Aufgaben auch nüchterner Art gibt es viele – aber sie werden auf mehrere Schultern verteilt. „Ich finde es sehr entspannend, dass ich mich nicht um alles kümmern muss, sondern darauf vertrauen darf, dass andere sich damit intensiv beschäftigen, und stattdessen Engagement in Bereichen einbringen kann, die mir mehr Spaß machen“, betont Bartels.
Kurz nach Einzug der ersten Bewohner begann die Pandemie. In dieser schwierigen Zeit habe das Gemeinschafts-Wohnprojekt seine Stärken ausspielen können: „Hier im Gemeinschaftsraum haben wir Home-Schooling gemacht“, zeigt Bartels zu einer breiten Glasfront, hinter der sich der große Raum befindet, der sowohl für Filmabende, als auch für Yogastunden oder Feste flexibel nutzbar und mit Beamer und anderer Elektronik perfekt ausgestattet ist.
Geflüchtete Familie
Als sich mehrere Bewohner mit dem Coranavirus infizierten und in Quarantäne bleiben mussten, durften sie sich der Unterstützung der Nachbarn sicher sein: „Wir haben für sie mit eingekauft und die Sachen vor die Tür gestellt“, erinnert sich Bartels. Genauso sei für andere mitgekocht worden. „Das war wirklich eine tolle Erfahrung, das hat super geklappt“, blicken Bartels und Straub auf diese „Pandemie-Nagelprobe“ zurück. Sollten Bewohner pflegebedürftig werden, steht eine Wohnung für eine Pflegekraft zur Verfügung.
Bis dahin wird sie an einen Studenten vermietet. Trauer indes ist ebenfalls bereits in die Gemeinschaft gezogen: Gerade musste man einen engagierten Mitbewohner der ersten Stunde verabschieden. „Er ist hier gestorben, wie er es sich gewünscht hat, und seine Frau ist von der Gemeinschaft sehr gestützt worden“, erzählen die „WoGe“-Frauen dankbar. Eine von der Gemeinschaft finanzierte Wohnung wird einer geflüchteten syrischen Familie zur Verfügung gestellt.
Studie belegt Nachhaltigkeit
Niemand muss immer mit anderen zusammen sein, jeder hat seinen eigenen Wohnbereich. Von der Dachterrasse des Neubaus im Westflügel haben die Bewohner Sonnenauf- und -untergang im Blick. „Hier sitzen wir gerne abends zusammen und lassen den Tag zusammen, mit Blick auf die Pfälzer Berge, ausklingen“, erzählt Straub.
Das Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu) hat gerade, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, den Nachhaltigkeitsaspekt von gemeinschaftlichen Strukturen in Wohnquartieren untersucht. Ergebnis unter anderem: Die Heidelberger Wohnprojekte können einen „signifikanten ergänzenden Beitrag zu Umwelt- und Ressourcenschutz leisten“.
Unter anderem würden Stellplätze reduziert, weil Pkw gemeinsam genutzt oder durch genossenschaftlich angeschaffte Lastenräder ersetzt würden. Der Wunsch, kostengünstig zu wohnen, mache Sanierungsobjekte für Wohnprojekte interessant –was graue Energie schütze. Abstriche an den Wohnstandards bei Gemeinschaftsprojekten und gemeinsame Ertüchtigung der Objekte könnten sich günstig auf die Kosten- und die Umweltbilanz auswirken. Da nicht nur die Ökologie, sondern auch die Lebensqualität gesteigert werde, sollte es Ziel einer nachhaltigen Stadtentwicklung sein, Gemeinschafts-Wohnprojekte zu fördern, bilanziert die Studie weiter.
Trauer und Vorfreude
Straub holt gerne ihre Schildkröten in den Garten und ist dann immer schnell umringt. Durch den Garten läuft eine junge Mutter. Ihr kleiner Sohn schaut interessiert zu uns Besuchern herüber und winkt. „Es ist einfach schön, hier in der Gemeinschaft die Kinder aufwachsen zu sehen“, beschreibt Bartels ein Glück dieses Gemeinschaftswohnens. Unter dem Kleid der vorbeilaufenden jungen Mutter wölbt sich ein Schwangerschaftsbauch. „WoGe-Kind Nummer 32 ist gerade in Arbeit“, fügt Bartels lächelnd hinzu.
Vernetzte Wohnprojekte
Ein Stammtisch bildete den Anfang: Vor elf Jahren hat sich in Heidelberg „hd–vernetzt“ gegründet. Menschen, die den Wunsch hatten, ein gemeinschaftliches Wohnprojekt Realität werden zu lassen, trafen sich. Diese „Pioniere“ traten als Ansprechpartner und Lobbyisten für Platz auf den Konversionsflächen für genossenschaftlich oder anders organisierte Wohnprojekte auf. Inzwischen haben Stadtteilakteure – etwa in der Südstadt – diese Aufgabe übernommen. „hd–vernetzt“ kümmert sich indes nicht nur um die inzwischen zehn verwirklichten Projekte von „Konvisionär“ bis „Collegium Academicum (CA)“, sondern ist auch Ansprechpartner für Interessierten. In den Quartieren möchten die „Vernetzer“ Impulse setzen. Etwa durch Angebote wie eine Fahrradwerkstatt, Umsonstläden und Kulturveranstaltungen. Mitglieder engagieren sich in den Bezirksbeiräten und in weiteren (kommunalen) Gremien wie im Dialogforum Wohnen.
Gerade für Menschen mit Pflegebedarf – jetzt oder später – würden in den Wohnprojekten privat Angebote geschaffen, die die öffentliche Hand nicht selbst vorhalten muss. Infos im Internet: www.hd-vernetzt.de miro
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