Heidelberg. Zuschauerzahlen sind an hochsubventionierten Theatern auch ohne Pandemie ein heikles Thema in Gemeinderäten, Rathaus- und Redaktionsstuben. Selten wurden sie so verkrampft zurückgehalten wie mit Ende der eben vergangenen Saison. Natürlich sind sie durch weniger Spieltage und Platzkapazitäten gesunken, aber vielleicht doch auch nicht wirklich schlechter geworden. Alles eine Frage der Perspektive? Oder doch höchste Zeit, eine große Theaterkrise auszurufen? Darüber sprachen wir mit Holger Schultze, Intendant des Theaters und Orchesters Heidelberg.
Herr Schultze, wie ist es denn für Sie, in Corona-Zeiten Zuschauerzahlen vorzulegen? Fühlt man sich da sofort ungerecht behandelt?
Holger Schultze: Nein, ich lege Ihnen gerne meine Schlossfestspielzahlen vor. 41 000 Zuschauer sind „seit Aufzeichnung“ – wie wir sagen – das beste Ergebnis, das wir auf dem Schlossberg da oben je hatten. Es ist doch interessant, dass die Leute zu den Freiluftaufführungen kommen, wir hatten einen Einbruch bei den Abozahlen von etwa 20 Prozent in den besagten zwei Pandemiejahren, was ich ehrlich gesagt mit Blick auf die Umstände nicht so viel finde ...
Ich auch nicht. Welchen Trick haben Sie angewandt?
Schultze: Wir haben massiv versucht, die Leute zu halten, haben mit den Abonnenten telefoniert, auch unserer Künstler haben dort angerufen. Mit Gutscheinen gearbeitet und vieles mehr. Im Ergebnis konnten wir viele überzeugen, ihr Abo nur ruhen zu lassen und nicht zu kündigen. Und jetzt läuft das wieder gut an. Auch mit Menschen, die uns sagen, dass sie in der Corona-Situation keines abschließen wollten, aber jetzt bewusst ein Zeichen setzen. Davon liest man in den Feuilletons nichts. Dort tut man immer so, als seien diese Menschen alle für immer weg.
Die Saison am Heidelberger Theater in Zahlen
- Die Schlossfestspiele Heidelberg erreichten mit 117 Vorstellungen und Konzerte über sieben Wochen 41 000 Besucherinnen und Besucher, was einer Auslastung von 86 Prozent entspricht.
- Die Gesamtauslastung des Theaters und Orchesters Heidelberg lag in den 768 Veranstaltungen der Spielzeit 2021/2022 bei 74,1 Prozent.
- Im Nationaltheater Mannheim fanden im gleichen Zeitraum spartenübergreifend 892 Veranstaltungen statt. Die Gesamtzahl der Besucherlag bei124 310,was einer Auslastung von 65 Prozent entspricht.
- Das Staatstheater Karlsruhe hatin der Saison 21/22 mit150 000 zuschauende Menschen das „auf 50 Prozent reduzierte Ziel an Besucherzahlen leicht übertroffen“ weist aber auch auf turbulente 182 Vorstellungsänderungen hin.
Sie sind also unzufrieden mit unzufriedenen Feuilletons?
Schultze: Ja, denn dort ist immer häufiger zu lesen, dass die Theater nur endlich mal ihre Programme ändern müssten – und schon würde sich der überall wahnsinnig grassierende Zuschauerschwund in Wohlgefallen auflösen. Ich halte das für vollkommenen Blödsinn.
Und ich bin zunehmend unzufrieden damit, dass an Theatern so getan wird, als sei jede Form von Zuschauerschwund mit Corona-Folgen und dem Ukraine-Krieg zu entschuldigen. Was sagen Sie nun?
Schultze: Dass wir da nun einen hübschen Schlagabtausch vor uns haben.
Fangen Sie an!
Schultze: Wir müssen uns klar machen: Wir hatten diese Spielzeit vier Monate lang gemäß der Pandemie-Landesverordnung nur 50 Prozent Platzkapazitäten, das war schon ein massiver Einschnitt. Wir müssen das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen, weil wir ja wegen Corona ständig alles ändern mussten. Man wollte sich etwas anschauen, hatte Karten – und dann wurde es heute gar nicht, morgen in anderer Besetzung und übermorgen eine Ersatzvorstellung gezeigt. Das war die Situation.
Hatten Sie starke Rückmeldung, dass Leute sich trotz Abstand, Maske und halbierter Auslastung gefährdet fühlten oder auch der Maske wegen nicht kommen wollten?
Schultze: Ja, natürlich. Da gab es heftige Briefwechsel. Die einen beschwerten sich über das Vorzeigen des Impfnachweises, die anderen darüber, dass die Nachweispflicht fiel. Die Abonnenten kommen aber wieder. Was wir aber zurückgewinnen müssen sind Lust und Neugier auf das „Erlebnis Theater“, als pure Form der Abendgestaltung, mit Wein in der Pause, dem Essen und dem Austausch danach. Das hören wir Theaterleute vielleicht gar nicht so gerne. Wir dürfen uns da aber nichts vormachen. Für wen machen wir denn Theater?
Nicht jeder Steuerzahler ist aber ein Theaternarr …
Schultze: Eben, aber den großen Teil derer, die „ab und zu“ ins Theater gehen, gilt es wieder zu steigern. Dies ist meiner Einschätzung nach die Gruppe, die derzeit am schwierigsten zurückzuholen ist.
Hand aufs Herz, es war ja schon auch ein bisschen trostlos in den ausgedünnten Sesselreihen..
Schultze: Genau und zudem waren die Restaurants zu und in der Pause gab es nichts zu trinken, zu Hause auf der Couch schon.
Sie sagen, die Abos steigen. Ist generell nicht weniger Bereitschaft da, sich terminlich zu binden?
Schultze: Wenn wir ehrlich sind, haben die Jüngeren noch nie so richtig zum Abo geneigt ... – die Arbeiter wollten ja auch schon bei Brecht nicht ins Theater. Nein, ohne Scherz, wir versuchen hier, verschiedene Strategien zu fahren. Wir haben etwa jetzt gerade für nächste Spielzeit schon 23 000 Schüler eingebucht. Mit der Universität zusammen haben wir die „Studi-Flat“ erarbeitet, ein System, bei dem 28 000 Heidelberger Studis mit den Studiengebühren einen Betrag aufzahlen – und damit dann fünf Tage vor einer Vorstellung jeweils eine Freikarte bekommen können.
Und wie läuft der Verkauf an der Abendkasse?
Schultze: Die Tendenz zum spontanen Entschluss, heute Abend ins Theater zu gehen, steigt. Wir haben ja generell seit meinem Antritt hier die Abonnentenzahl vervierfacht. Momentan hat es der Umstände wegen eben wieder etwas nachgelassen, der Grundfehler ist aber generell, dass wir immer von „einem“ Publikum reden.
Und es gibt mehrere?
Schultze: Wir sind buchstäblich ein Stadttheater „für ganz viele Menschen“. Was der einen gefällt, gefällt dem anderen nicht oder umgekehrt. Wir sind aber nicht das (großartige) Maxim Gorki Theater mit einer bestimmten Ästhetik innerhalb vieler Anbieter vor Ort, wir sind kein Nischen-Theater, sondern ein Theater für eine Stadtgesellschaft.
Da sind wir uns einiger als vermutet. Ihnen fehlen Berührungsängste mit Komödien, Operetten und Klassikern – so werden Sie nie Intendant in Berlin!
Schultze: Da bin ich mir nicht so sicher, immerhin bin ich Berliner. Ernsthaft: Wir machen nämlich neben all dem von Ihnen erwähnten auch den Stückemarkt mit zeitgenössischer Dramatik, ein Tanzfestival mit freien Formen, zeigen mit „Adelante“ als einziges Theater iberoamerikanische Gastspiele oder sind mit unserem neuen Widerstandsfestival „Remmidemmi“, das wir von 7. bis 9. Oktober erstmals begehen und für das wir Stückaufträge vergaben, sehr breit aufgestellt.
Sie decken alles ab von Unterhaltung bis zu intellektuellen Fachmarkt ...
Schultze: Ja, man muss aber natürlich einräumen, dass wir in Heidelberg zum Glück auch ein sehr breitgefächertes bürgerliches Publikum vom amerikanischen Touristen über die Studentin bis zum Germanistikprofessor oder Industriellen haben.
Streiten wir weiter: Glauben Sie nicht, dass vielerorts persönlicherer Karriere-Ehrgeiz wichtiger ist als ein ausgewogener Spielplan, der auf eine konkrete Stadtgesellschaft zugeschnitten ist?
Schultze: Da liegen wir vielleicht nun weit weniger auseinander, als Sie denken. Außer dass ich zunächst nichts Verwerfliches daran finde, am Theater Karriere machen zu wollen. Dennoch muss man sich klar machen: Die Gelder werden nicht mehr, die gesellschaftliche Spaltung wird größer und die Gesamtsituation mit Ukraine-Krieg und drohenden Corona-Varianten wird nicht gerade Geld in die Stadtkassen spülen.
Wie will man Gelder rechtfertigen, wenn Theater nur 20, 30 Prozent Platzausnutzung haben?
Schultze: Das wäre albern. Wir reden von Relevanz und anderen Dingen, aber das Entscheidende ist doch, dass wir in der Stadt als kulturelles Zentrum mit den Menschen, die das Theater in einer Stadt für wichtig halten, eine Gemeinschaft bilden. Unsere größte Chance ist es doch, ein breites Publikum zu haben, für das wir all diese Angebote machen. Das heißt ja nicht, dass man nicht kritisches Theater machen kann. Beides ist wichtig, das Kritisch-Reflexive aber eben auch das Unterhaltende.
Wenn wir auf Gesamtzahlen schauen, werden Sie trotzdem wie alle anderen Theater an Zuschauerzahlen verloren haben …
Schultze: Ja, das geht ja auch gar nicht anders, wenn man mehrere Monate nur mit 50 Prozent spielen kann. Mich ärgert nicht, dass diese Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden, sondern dass man deshalb unter dem Motto „nach Corona ist alles anders“ nun „die Krise am Theater“ ausgerufen“ hat, und daraus folgert, man müsse ein anderes Programm machen.
Der Sachverhalt der Zwangsschließungen und Sitzplatz- reduzierung ist doch bekannt...
Schultze: Eigentlich schon, wenn man aber nur schreibt „die Theater verlieren Zuschauer“ klingt das eben leider ganz anders. Manche Medien tun so, als sei das Theater schon abgeschrieben und die Diskussion ist wahnsinnig einseitig. Man muss die Zahlen auch im Theater im Kontext sehen. Das Publikum kriegen wir zurück, da bin ich mir sicher!
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