Interview

Heidelberger Krebsmediziner: „60 Prozent der Todesfälle ließen sich verhindern“

Das Deutsche Krebsforschungszentrum baut in Heidelberg gemeinsam mit der Deutschen Krebshilfe ein nationales Präventionszentrum. Ihr Chef, Michael Baumann, im Gespräch.

Von 
Bernhard Zinke
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Michael Baumann, Chef des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. © M. Stark/DKFZ

Das Wichtigste in Kürze

  • Das DKFZ errichtet in Heidelberg ein Krebspräventionszentrum.
  • 60 Prozent der Krebstodesfälle sind durch Prävention vermeidbar.
  • Ein gesunder Lebensstil und Früherkennung sind entscheidend.

Heidelberg. An der Berliner Straße in Heidelberg entsteht aktuell ein Gebäudekomplex, in dem unter anderem das nationale Krebspräventionszentrum unterkommen soll. Damit wollen das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) und die Deutsche Krebshilfe systematisch erforschen, wie sich Aufklärung über die Risikofaktoren für Krebs und der Nutzen der Früherkennung besser vermitteln lassen. DKFZ-Chef Michael Baumann erklärt im Interview die Ziele und Hintergründe.

Herr Professor Baumann, das Deutsche Krebsforschungszentrum eröffnet gemeinsam mit der Deutschen Krebshilfe 2027 in Heidelberg ein nationales Krebspräventionszentrum. Wie viele Menschen erkranken in Deutschland aktuell jährlich an Krebs?

Michael Baumann: Jedes Jahr mehr als 500.000 Menschen. Es sterben jährlich über 220.000 Menschen. Insgesamt erkennen wir, dass Krebserkrankungen weltweit deutlich ansteigen. In Deutschland rechnen wir mit 600.000 Krebserkrankungen, also einer Zunahme um 20 Prozent bis 2040.

Woran liegt das?

Baumann: Das liegt erst einmal daran, und das ist eine gute Nachricht, dass wir alle älter werden. Mit höherem Alter nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass man Krebs bekommt. Es liegt aber auch daran, dass Menschen in Deutschland zunehmend ungesund leben.

Was sind die häufigsten Arten von Krebs?

Baumann: Laut der Daten des Krebsregisters erkranken an Darmkrebs knapp 55.000 Menschen pro Jahr, an Lungenkrebs knapp 57.000, Brustkrebs rund 71.000 und an Prostatakrebs knapp 66.000 Menschen.

Wenn wir uns alle komplett vernünftig verhalten würden, könnten wir 40 Prozent aller Krebserkrankungen vermeiden.
Michael Baumann Chef des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg

Wieviele Fälle könnten durch eine gesunde Verhaltensweise verhindert oder durch Vorsorge rechtzeitig erkannt werden?

Baumann: Wenn wir uns alle komplett vernünftig verhalten würden, könnten wir 40 Prozent aller Krebserkrankungen vermeiden. Wenn man jetzt noch die Früherkennung dazu nimmt, dann ließen sich nach heutigem Wissen rund 60 Prozent der Krebstodesfälle verhindern. Das sind so enorm große Zahlen, die in keinerlei Verhältnis zu dem stehen, was man etwa mit einem neuen Medikament oder einer neuen Operationsmethode erreichen kann. Deshalb müssen wir einfach mehr tun, um Krebs konsequenter zu vermeiden und die Krebsfrüherkennung zu verbessern. Genau das ist das Ziel des Nationalen Krebspräventionszentrums.

Im Grunde wissen wir ja alle um die Risikofaktoren: zu wenig Bewegung, Rauchen, Alkohol, ungesundes Essen. Ist der Mensch einfach nicht intelligent genug?

Baumann: Zumindest ist es sehr schwierig, hundertprozentig gesund zu leben. Aber wenn viele Menschen mit dem Rauchen aufhören würden, wäre schon sehr, sehr viel gewonnen. Auch Übergewicht ist ein wichtiger Risikofaktor, mehr noch als Bewegungsmangel. Wir würden auch dann sehr viel gewinnen, wenn es dem einen oder anderen gelänge, massives Übergewicht abzubauen. Sie haben aber völlig recht, es ist offensichtlich schwer. Die Faktoren sind bekannt.

Aber wie könnte das gelingen, die Menschen von einem gesünderen Lebenswandel zu überzeugen?

Baumann: Es gibt zwei Strategien für eine gesündere Gesellschaft. Das eine ist die Verhaltensprävention, also tatsächlich die Aufklärung eines jeden Einzelnen, der sich dann selbst zu einem gesunden Lebensstil entschließt. Damit haben wir in den letzten Jahrzehnten nicht genug erreicht. Das zweite ist die Verhältnisprävention. Das sind Anstöße, die beispielsweise in Gesetze einfließen, oder die durch Verbesserung von Maßnahmen den Menschen erleichtern, gesund zu leben. Aus weltweiten Betrachtungen wissen wir, dass dies oft sehr effizient ist.

Haben Sie ein Beispiel?

Baumann: Die Raucher-Raten in Deutschland sind durch zwei Faktoren deutlich nach unten gegangen. Das eine war die höhere Besteuerung des Tabaks. Und zweitens darf nicht mehr überall geraucht werden, insbesondere in Restaurants. Das hat zu einer massiven Senkung der Raucher-Raten geführt. Das ist ein typisches Beispiel für Verhältnisprävention. Aber seit 15 Jahren sind wir damit nicht weitergekommen. Anderswo sind die Raten weiter gesunken, England strebt jetzt an sogar an, ein Nichtraucherland zu werden, definiert als weniger als 5 Prozent Raucher. Bei uns sind es weiterhin um die 20 Prozent.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Michael Baumann

  • Der Radioonkologe ist seit 2016 Vorstandsvorsitzender und wissenschaftlicher Vorstand des DKFZ in Heidelberg.
  • Baumann studierte und promovierte in Hamburg .
  • Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard Medical School, Boston und seiner Facharzt-Ausbildung für Radiologie und Strahlentherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf habilitierte er sich 1994 an der Uni Hamburg. 1995 wechselte er an die TU Dresden. Dort wurde später Direktor der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie an der TU.
  • Er war unter anderem Mitbegründer des Universitäts-KrebsCentrums der TU Dresden . 2013 wurde er dann Direktor des Instituts für Radioonkologie am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf, bevor er nach Heidelberg wechselte.
  • Seine Forschungsschwerpunkte sind die klinische Strahlenbiologie und experimentelle Strahlentherapie von Tumoren.

Also lässt sich das dann tatsächlich irgendwo nachweisen, dass über solche regulativen Maßnahmen die Fälle von Lungenkrebs sinken?

Baumann: Ja. In den USA, die uns ungefähr 10 bis 15 Jahre voraus sind, und auch in England gehen die Zahlen der Erkrankungen deutlich zurück.

Rauchverbote in der Öffentlichkeit haben ja zu einem regelrechten Glaubenskrieg geführt. Raucher haben sich in ihren persönlichen Freiheiten massiv angegriffen gefühlt. Der Mensch ist offensichtlich nicht bereit für vernünftige Entscheidungen.

Baumann: Ja, da gibt es tatsächlich Zielkonflikte. Wenn jeder für sich selbst entscheiden will, was vernünftig ist, dann wird eine staatliche oder gesellschaftliche Maßnahme negativ gesehen. Es gilt, genau abzuwägen, welche Maßnahmen zu welchem Zeitpunkt das Beste sind. Einfach nur ein Plakat gegen das Rauchen aufzuhängen, reicht nicht. Gleichzeitig muss man aber auch erkennen, dass gerade junge Menschen gezielt durch Werbung zum Rauchen verführt werden. Tabak darf in Deutschland beispielsweise nicht im Internet beworben werden. Damit ist es leider nicht weit her.

Wir müssen dieses Thema daher auch als gesellschaftliche Debatte führen. Letztendlich gilt es, Freiheit abzuwägen gegen Maßnahmen, die als Unfreiheit empfunden werden könnten. Aber was Kinder und Jugendliche angeht, haben wir als Gesellschaft eine Verantwortung. Wir müssen dafür sorgen, dass diese vulnerable Gruppe nicht über den Tisch gezogen wird.

In bestimmten Kreisen gilt die Überzeugung: Die coolen Leute stehen in der Raucherecke. Und die interessanten Gespräche werden nicht in der Kneipe, sondern vor der Kneipe geführt, also da, wo geraucht wird.

Baumann: Das ist ein Image, das von interessierten Kreisen aufgebaut wurde und gepflegt wird. Wir müssen tatsächlich dafür sorgen, dass Nichtrauchen cool ist und Rauchen eben nicht cool ist. Und dazu braucht es die Expertise verschiedener Disziplinen, etwa von Gesellschaftswissenschaftlern oder beispielsweise auch von Werbestrategen.

Wieviele Raucher gibt es denn im DKFZ?

Baumann: Die Zahl ist niedrig, aber leider nicht null. In und um die Gebäude des DKFZ darf nicht geraucht werden, aber auch wir haben Raucherecken.

Die HPV-Impfung kann den Gebärmutterhalskrebs nahezu komplett ausrotten.
Michael Baumann Chef des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg

Was haben normale Bürgerinnen und Bürger von einem Krebspräventionszentrum in Heidelberg?

Baumann: Das Krebspräventionszentrum ist zunächst einmal eine Forschungseinrichtung. Das heißt, wir bringen alle diejenigen unter einem Dach zusammen, die Krebsprävention, Früherkennung und auch Survivorship, also die Begleitung des Lebens nach einer Krebsbehandlung, besser machen. Dazu gehört ein hohes Maß an Interdisziplinarität, von biologischer Forschung bis hin zu den Sozialwissenschaften.

Nehmen wir als Beispiel die HPV-Impfung, deren wissenschaftliche Grundlagen am DKFZ entwickelt wurden. Sie trägt dazu bei, dass bestimmte Krebsarten erst gar nicht entstehen. Die HPV-Impfung kann den Gebärmutterhalskrebs nahezu komplett ausrotten, eine Impfquote von 70 bis 80 Prozent vorausgesetzt. Wir haben in Deutschland aber keine besonders guten Impfquoten – bei den Mädchen etwas über 50 Prozent, bei den Jungs zwischen 20 und 30 Prozent. Auch die Ursache dieses Problems musste erforscht werden.

Woran liegt‘s?

Baumann: Wir wissen mittlerweile, dass es an der schwierigen Organisation der Impfung in Deutschland liegt, die den Eltern einiges abverlangt. In anderen Ländern wird beispielsweise an der Schule geimpft. Da hängt Deutschland im gesamten internationalen Vergleich weit zurück. Ich bin optimistisch, dass wir das innerhalb der nächsten zehn Jahre auch bei uns geregelt bekommen.

Aber man sieht, man braucht die Sozial- und Erziehungswissenschaften, um das Thema nach vorne zu bringen. Das ist das Konzept, das das Nationale Krebspräventionszentrum aufbaut. Das reicht von der Grundlagenforschung bis zur Politikberatung. Jede Bürgerin, jeder Bürger kann aber auch zur Beratung ins Präventionszentrum kommen, in die Präventionsambulanz. Gerade die Menschen aus Mannheim oder aus der Region können sich hier beraten lassen.

Wir werden auch mit Schulen und Kindertagesstätten zusammenarbeiten. Was man dort gelernt hat, braucht man später nicht mehr zu lernen. Im Grunde ist Krebsprävention früh in die Zukunft investiertes Geld. Dadurch wird eine sehr viel teurere Behandlung oft gar nicht mehr erforderlich.

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Gibt es auch in diesem Bereich Verbindungen zwischen Heidelberg und Mannheim?

Baumann: Sogar eine sehr enge. Es gibt an der Universitätsmedizin Mannheim das DKFZ-Hector-Krebsinstitut. Dort forschen mehrere Professorinnen und Professoren zur Krebsprävention - und zwar von der Primärprävention bis zur Surivorship-Forschung. Dies wurde möglich durch eine großartige philanthropische Unterstützung durch die Hector-Stiftungen.

In Deutschland fließen nur sieben Prozent des Geldes in die Krebsprävention. Wie viel Geld fließt in die Behandlung von Krebserkrankungen?

Baumann: Das meiste Geld geht tatsächlich in die „Reparaturmedizin „, wenn die Krankheit schon da ist. Die Zahlen sprechen natürlich dafür, dass der Anteil für die Prävention deutlich erhöht werden muss. Das ist auch genau der Grund, warum die Deutsche Krebshilfe und wir gemeinsam mit dem Präventionszentrum einen neuen Pflock einschlagen.

Das Krebspräventionszentrum soll 2027 die Arbeit aufnehmen. Was wird es insgesamt kosten?

Baumann: Wir bauen in Heidelberg einen Gebäudekomplex, bestehend aus drei Gebäudeteilen. Dieser entsteht direkt an der Berliner Straße, in unmittelbarer Nähe zu einer Straßenbahnhaltestelle und zur Stadt hin geöffnet. Hier wird ein Zentrum für digitale Onkologie entstehen, dazu das Gebäude, das auch das DKFZ-Hector Krebsinstituts beherbergt. Und dazwischen entsteht das Nationale Krebspräventionszentrum. Der Bau dieser Gebäude wird insgesamt deutlich über 100 Millionen Euro kosten. Alle diese Gebäude sind durch Spenden von Philanthropen und Eigeneinkünfte des DKFZ gedeckt. Da steckt kein Euro an Steuergeld drin.

Wie viele Menschen werden dort arbeiten?

Baumann: Wir rechnen mit etwa 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dort wird auch die schon erwähnte Präventionsambulanz ihre endgültigen Räume beziehen. Das Nationale Krebspräventionszentrum ist die erste Einrichtung dieser Art in Europa und eine der ersten überhaupt in der Welt.

Aber wir werden es wohl nicht schaffen, den Krebs an sich in irgendeiner Weise auszurotten?

Baumann: Diese Krankheit ist vermutlich nicht komplett besiegbar, aber zumindest sehr, sehr stark eingrenzbar. Das Motto des DKFZ lautet: „Forschung für ein Leben ohne Krebs“. Und dieses Motto werden wir auch nicht ändern. Und wir haben als DKFZ die Mission, Krebsneuerkrankungen und Todesfälle durch unsere Forschungsarbeit signifikant zu senken. Das heißt, wir wollen das auch quantitativ nachweisbar machen. Das wird noch viele Jahre dauern. Aber wir wollen uns da an hohen Maßstäben messen lassen. Wir wollen Verbesserungen für die Menschen und Patienten bewirken und keine Forschung im Elfenbeinturm betreiben.

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