Heidelberg. Blutergüsse an Stellen, die nicht von einem Sturz stammen können – wie die Innenseite der Oberschenkel -, Verletzungen am Hals, im Mund oder im Genitalbereich: Das sind Warnsignale, die Pflegepersonal oder Ärztinnen und Ärzte aufhorchen lassen sollten. Alte Menschen werden immer wieder Opfer von Gewalt. Um die Sensibilität dafür zu erhöhen, startet der Zonta Club Heidelberg Kurpfalz gemeinsam mit der Gewaltambulanz des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Heidelberg die Aktion „Checkliste“. Als „Kitteltaschen-Info“ wird die Checkliste nun an Ärzte und Pflegekräfte in Kliniken und Pflegeeinrichtungen verteilt. Um für mehr Aufmerksamkeit zu sorgen.
„Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs“, ist Kathrin Yen, Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg, sicher. Um das Dunkelfeld zu erhellen, brauche es „ein Umfeld, das aufmerksam ist“, fügt sie hinzu.
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In der von ihr gegründeten Gewaltambulanz mit ihren beiden Standorten Heidelberg und Stuttgart werden im Jahr inzwischen 1000 Menschen betreut. Es sind Opfer von Schlägereien in der Öffentlichkeit, aber auch vor allem von häuslicher Gewalt. Und eben Betagte oder andere Pflegebedürftige.
Auch Mannheim liegt im Zuständigkeitsgebiet. In den Gewaltambulanzen werden Spuren gesichert – unabhängig davon, ob sich das Opfer dazu entschließt, die Gewalttat bei der Polizei anzuzeigen.
Gewaltambulanz deckt unentdeckte Fälle von Misshandlung auf
Die Verletzungen werden dokumentiert, Beweise gesichert – und bis zu einem Jahr lang gespeichert. „Wir können das Dunkelfeld durchleuchten“, beschreibt Yen ihre Erfahrung aus vielen Fällen, die gar nicht erst gemeldet werden und daher nicht in die Statistik eingehen. Die Anfragen seien enorm gestiegen. Angefangen habe die Gewaltambulanz mit 50 Menschen. Unter der Telefonnummer 0152/54 64 83 93 ist die Gewaltambulanz rund um die Uhr erreichbar.
Die mobilen Teams der Gewaltambulanzen sind Tag und Nacht unterwegs und besuchen immer wieder auch Einrichtungen, in denen viele bettlägerige oder stark pflegebedürftige Menschen zu Opfern von Gewalt geworden seien. Wie viele das genau sind, vermag Yen nicht zu sagen. Eine aktuelle Studie soll bald Antwort auf diese Frage geben. Yen berichtet vom Körper einer Seniorin, der „übersät“ gewesen sei mit blauen Flecken. Und von einem anderen Fall, in dem ein Senior seine pflegebedürftige Frau im Krankenhaus mit einem Messer umbringen wollte.
Viele andere Dramen bleiben unentdeckt, ist sie sicher. Und wünscht sich, dass beim Thema Gewalt gegen Ältere eine ähnlich große Aufmerksamkeit entsteht, wie es sie zum Glück inzwischen beim sexuellen Missbrauch von Kindern gebe – dank vieler Kampagnen in den vergangenen Jahren. Yen erinnert sich, wie zum Beispiel junge Kinderärzte geschult wurden. „Da müssen wir auch beim Thema Gewalt im Alter hinkommen“, findet Yen.
Gewalt gegenüber Senioren wird oft durch die Überforderung der Pflegenden ausgelöst
Man müsse auch die Seite der Pflegenden sehen, betont Jürgen M. Bauer, Ärztlicher Direktor des Geriatrischen Zentrums am Universitätsklinikum Heidelberg Agaplesion Bethanien Krankenhaus. Denn häufig stehe Überforderung am Anfang der Gewalt gegen Alte. Gerade demente Personen zeigten nicht selten ein sehr herausforderndes Verhalten. Schlafentzug – auch beim Täter – sei ebenfalls ein Verstärker der Probleme. Da seien Freunde und Familie gefragt, solche Situationen zu erkennen und zu benennen, bevor sie eskalieren – und Unterstützung zu organisieren. Neben physischer Gewalt gebe es verbale und psychische Gewalt: „Nicht mehr zu sprechen mit den alten Menschen kann auch ein Trauma auslösen.“ Die Respekt- und Würdelosigkeit fange „schon beim Duzen“ an. Nicht jeder schaffe die Begleitung von Alten: „Es gibt auch Menschen, die einfach nicht geeignet sind, zu pflegen“, fügt Yen hinzu.
Für Franziska Polanski, Mitglied des Zonta Clubs Heidelberg-Kurpfalz, die das Forschungsprojekt „Altersstereotype im kulturellen Gedächtnis“ am Marsilius Kolleg der Universität Heidelberg leitete, ist es in unserer Gesellschaft „das Normale, dass das Alte schlecht behandelt wird“. Polanski ist auch Initiatorin und Kuratorin der Ausstellung „Das Alter in der Karikatur“.
Gabriele Krauch Präsidentin des Zonta Clubs Heidelberg Kurpfalz, ist Kinderärztin. „Vor 15 Jahren hätte ich mir niemals vorstellen können, dass Gewalt an Kindern so häufig vorkommt“, erzählt sie. Nun müsse eine ähnliche Aufmerksamkeit an das Lebensende gerichtet werden.
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