Heidelberg. Als Mitte Februar ein 27-Jähriger im Maßregelvollzug im Faulen Pelz in Heidelberg stirbt, ahnt zunächst noch niemand, dass dieser Fall den Beginn einer langen Geschichte markiert, in der es um schwere Vorwürfe geht, die wieder und wieder dementiert werden. Und dennoch nicht abreißen. Bis heute.
Trotz Obduktion bleibt zunächst unklar, woran der Niederländer im Heidelberger Maßregelvollzug starb. Die Staatsanwaltschaft Heidelberg ordnet deshalb weitere rechtsmedizinische Untersuchungen an, im April wird öffentlich: Der Mann starb an den „Folgen einer Intoxikation mit einem synthetischen Cannabinoid“. Synthetische Cannabinoide sind künstlich hergestellte Substanzen, die eine ähnliche Wirkung haben wie pflanzlicher Cannabis. Wie der Mann im Maßregelvollzug für suchtkranke Straftäter an die Substanz gelangte, sei Gegenstand der weiteren Ermittlungen, sagt ein Sprecher der Behörde Anfang April auf Nachfrage.
Die Mutter des Patienten berichtet dieser Redaktion kurz darauf, dass ihr Sohn wegen Drogenhandels zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, weil er als Kurier Drogen nach Deutschland schmuggelte. Und auch, dass er dringend Hilfe benötigt habe, „um von den Drogen loszubekommen – so dringend.“ Sie deutet mögliche Mängel in der medizinischen Versorgung in der Einrichtung an. Sie fragt sich, ob ihr Sohn noch leben würde, wenn er früher medizinisch versorgt worden wäre.
Anwältinnen und Anwälte setzen Brandbrief auf
Der Vorwurf, es könnte Defizite in der medizinischen Versorgung geben, klingt auch in einem Brief an, den 21 Rechtsanwältinnen und -anwälte aus Baden-Württemberg kurz nach dem Todesfall veröffentlichen. Darin monieren sie zunächst gravierende bauliche Mängel, etwa kaputte Duschen und Schimmelbefall – der „Faule Pelz“ wurde Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut und war über 160 Jahre lang ein Gefängnis. 2015 wurde es geschlossen, weil es zu marode war.
Danach entbrannte ein Streit zwischen Stadt und Land über den weiteren Gebrauch. Die Stadt hatte sich für eine universitäre Nutzung des Gebäudes stark gemacht, doch im August 2023 zogen dort die ersten suchtkranken Straftäter ein – im Zuge einer Interimslösung. Bis zum Sommer 2025 sollen die Patienten nach Schwäbisch Hall verlegt werden, wo laut Sozialministerium aktuell noch Arbeiten an einem neuen Gebäude laufen. Der Umbau des „Faulen Pelzes“ kostete das Land rund elf Millionen Euro.
In ihrem Brandbrief sprechen die Juristinnen und Juristen außerdem von verdorbenem Essen und zu wenigen Therapieangeboten für die suchtkranken Patienten. Wie bereits angedeutet, geht es darin auch um die ärztliche Versorgung. In dem Brief beschreiben die Verfasser etwa den Fall eines Patienten, der erst viel zu spät untersucht und adäquat behandelt worden sein soll: „Als ein Patient Anfang des Jahres nachts über heftige Bauchschmerzen klagte, sei die Pflegefachkraft, welche die Ärztin telefonisch informiert habe, von dieser darauf hingewiesen worden, dass sie nachts nicht zu stören habe und dem Patienten Ibuprofen oder Atosil-Tropfen (Mittel zur Behandlung von Unruhe- und Erregungszuständen bei psychiatrischen Erkrankungen) zu verabreichen seien. Der Patient sei erst am darauffolgenden Morgen gegen 10 Uhr von der Ärztin selbst untersucht worden, gegen 11.30 Uhr sei sodann aufgrund eines Blinddarmdurchbruchs eine Notoperation durchgeführt worden.“ In den Wochen nach Bekanntwerden des Briefs folgen vertrauliche Gespräche zwischen den Anwältinnen und Anwälten mit dem Sozialministerium, das für den Maßregelvollzug zuständig ist. Das Ministerium organisiert einen Presserundgang in der Einrichtung. Der Tenor der Veranstaltung, an der auch diese Redaktion teilnimmt: Alles halb so wild. Mit den Anwälten habe man ein „sehr gutes Gespräch geführt“ und wolle im Austausch miteinander bleiben, sagt Ministerialdirektorin Leonie Dirks im April als Vertreterin des Sozialministers vor Ort.
Todesermittlungsverfahren eingestellt
Es habe Probleme mit dem alten Caterer gegeben, räumt der Geschäftsführer vom Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in Calw, Michael Eichhorst, während des Termins ein. Er ist in seiner Funktion auch für den „Faulen Pelz“ zuständig. „Anderen Dingen sind wir nachgegangen, konnten aber keine Mängel feststellen – zum Beispiel dahingehend, dass hier Notfälle nicht behandelt worden sein sollen“, sagt Dirks.
Wie diese Redaktion nun erfuhr, ist das Ermittlungsverfahren rund um den Tod des 27-Jährigen zwischenzeitlich eingestellt worden, dies bestätigt ein Sprecher der Heidelberger Staatsanwaltschaft Ende November auf Anfrage. „Es konnte auch nach umfangreichsten Ermittlungen kein Täter ermittelt werden, dem ein strafrechtlich relevanter Vorwurf gemacht werden konnte, der zum Versterben geführt hat“, so der Sprecher.
Und doch scheint es so, als ob es in der Einrichtung weiter rumort. In den vergangenen Monaten hat diese Redaktion mit mehreren aktuellen und ehemaligen Patienten der Einrichtung sowie mit ehemaligen Mitarbeitenden aus dem Pflegebereich gesprochen, einige von ihnen haben uns seitenlange Briefe übersandt, andere haben immer wieder über das Stationstelefon der Einrichtung angerufen. Und sie alle zeichnen ein anderes Bild, berichten von anhaltenden Missständen, insbesondere im medizinischen Bereich.
Die Heidelberger Staatsanwaltschaft bestätigt auf Anfrage dieser Redaktion auch, dass ein Patient Anzeige gegen einen ehemaligen Beschäftigen der Einrichtung erhoben hat. Die Vorwürfe bezögen sich auf den Umgang und die medizinische Versorgung, so ein Sprecher auf Nachfrage. Die Staatsanwaltschaft hat von Amts wegen die Ermittlungen aufgenommen, der Patient habe die Anzeige inzwischen zurückgezogen.
Auf Anfrage dieser Redaktion heißt es aus dem Sozialministerium, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft Heidelberg sei im Ministerium nicht bekannt und etwaige Ergebnisse wären abzuwarten.
Eine ehemalige Mitarbeiterin des Maßregelvollzugs, die anonym bleiben möchte, hat über Rechtsanwalt Timo Kettler Kontakt zu dieser Redaktion aufgenommen. Kettler gehört zu den 21 Anwälten, die den Brandbrief unterzeichnet haben. „Die ärztliche Versorgung ist um vieles schlechter als in anderen Einrichtungen, die über das Land finanziert werden“, sagt die Frau.
Patienten und Mitarbeitende berichten von mehreren Fällen
Sie und andere Menschen, mit denen diese Redaktion gesprochen hat, zählen verschiedene Fälle auf, die zumindest Fragen aufwerfen. So ist etwa von einem Patienten die Rede, der aufgrund einer Vorerkrankung unter hohem Blutdruck gelitten haben soll. Während seines Entzugs hätten sich seine Werte im lebensbedrohlichen Bereich bewegt. Dazu sei eine massive Dehydrierung gekommen, der nur unzureichend entgegengewirkt worden sei.
Ein anderer Patient, der starke Schmerzmittel sowie Antiepileptika genommen haben soll, habe unter einem Taubheitsgefühl im Bein gelitten. Er soll mit Antidepressiva behandelt worden sein. Wieder ein anderer soll große Probleme beim Gehen gehabt haben, es soll Monate gedauert haben, bis er eine Kniebandage bekam. Andere Patienten hätten tagelang auf Medikamente warten müssen, da diese über das Mutterhaus in Calw bestellt werden sollten und die Lieferung nur einmal wöchentlich erfolgt sei. Und: Im Juni sei 14 Tage lang kein Arzt im Haus gewesen, wegen Urlaubs und Krankheit, ein Stellvertreter sei zeitweise nicht erreichbar gewesen.
„Im Rahmen der Aufsicht gehen wir den obenstehenden Vorwürfen ehemaliger Patienten selbstverständlich nach“, sagt eine Sprecherin des Sozialministeriums auf Anfrage dieser Redaktion. Aus Gründen der Schweigepflicht und des Datenschutzes könne man hierzu allerdings keine weiteren Auskünfte erteilen. Richtig sei, dass man im Faulen Pelz durch die Klinik-Apotheke am Standort Calw-Hirsau beliefert werde. Dringend benötigte Medikamente würden allerdings über eine Partner-Apotheke in der Altstadt bezogen, sodass Wartezeiten hierfür sehr kurz seien. Die Aussage, dass im Juni 14 Tage lang kein Arzt in der Einrichtung gewesen sei, entspreche nicht den Tatsachen, so die Sprecherin weiter. „Für den gleichzeitigen Ausfall von Ärzten (Urlaub, Krankheit) ist grundsätzlich eine Vertretungsregelung mit der Unterstützung der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie Calw-Hirsau vorgesehen.“
Sprecherin des Ministeriums widerspricht den Vorwürfen
Die Berichte über eine mangelhafte medizinische Versorgung in der Einrichtung könne man nicht bestätigen. Und weiter: „Arztsprechstunden werden von einer Fachärztin für Innere Medizin und von einem psychiatrisch erfahrenen Assistenzarzt, der kurz vor Abschluss der Weiterbildung steht, durchgeführt.“ Außerdem habe sich in den vergangenen Monaten eine ergänzende Zusammenarbeit mit einer nahe gelegenen Hausarztpraxis entwickelt. Für die Notfallversorgung bestehe die Kooperation mit dem St. Josephskrankenhaus Heidelberg. Termine beim Facharzt erforderten eine gewisse Wartezeit, „so wie es auch bei der Allgemeinbevölkerung üblich ist“.
Eine ehemalige Mitarbeiterin der Einrichtung berichtet auch, wie sehr es sie irritiert habe, dass der Presserundgang im Frühjahr auf einer neuen, nicht belegten Station stattgefunden habe. Sie und andere sprechen darüber, dass einem der Patienten, der mit Pressevertreterinnen und -vertretern über die Lage in der Einrichtung sprach, zuvor eine Verlegung nach Reichenau in Aussicht gestellt worden sei, „wenn er das Richtige sage“.
„Reichenau ist der Rolls-Royce unter den Einrichtungen für suchtkranke Straftäter“, sagt die Frau. Die Sprecherin des Sozialministeriums antwortet darauf: „Wie bekannt, beschränkt sich die Therapie in Heidelberg auf einen Teil der stationären Phase der Unterbringung und die Patienten werden danach auf die sonst örtlich für sie zuständigen Einrichtungen verteilt. Die obenstehende Aussage ist aus unserer Sicht daher nicht nachvollziehbar.“
So endet dieser Text mit einem erneuten Dementi. Und der Ahnung, dass es noch nicht den Schluss dieser langen Geschichte markieren könnte.
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