In der Wissenschaft werden für die Klassifizierung von Fauna und Flora gerne aus dem Lateinischen abgeleitete Ausdrücke verwendet. Unter den Säugetieren gibt es ganz besonders furchterregende Exemplare, die sogenannten Carnivoren, auf Deutsch Fleischfresser. Der böse Wolf gehört dazu, der verschlingt - zumindest in Grimms Märchen - Zicklein zuhauf und macht auch vor Großmüttern nicht Halt. Florian Kaiser, Gründer der in Heidelberg beheimateten Wanderbühne „Carnivore“, macht hingegen einen ausgesprochen friedfertigen Eindruck. Freundlich, aufgeschlossen geht er auch auf Fragen ein, die mangelnder Kenntnis seiner 2015 ins Leben gerufenen Unternehmung entspringen könnten.
Eigentlich wollten wir uns auf dem Heidelberger Wilhelmsplatz treffen, wo Florian Kaiser sowie seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen den Lastkraftwagen aufklappen, um ihr jeweiliges Spiel zu präsentieren. Von Bäumen umsäumtes Flair, gegenüber die St. Bonifatius-Kirche mit ihrer Mönch-Orgel und ringsherum Weststadt-Mütter, die energisch in die Pedale treten, um die lieben Kleinen per Anhänger von A nach B zu transportieren oder auch umgekehrt.
Zwischen Akrobatik und Workshop
Pech gehabt, die anheimelnde Location verliert im frühherbstlichen, regnerischen Grau ihren Charme. Treffen wir uns halt im angesagten Bistro, damit Florian Kaiser gemeinsam mit Projektleiterin Kerstin Kiefer ein spektakuläres Projekt vorzustellen: Das Erste Internationale Wanderbühnenfestival mit Gästen hauptsächlich aus Frankreich und Tschechien sowie mehreren Wanderbühnen aus Deutschland, sie stellen ihre Stücke vor, die vielen Veranstaltungen werden komplettiert durch Lesungen und Konzerte des Heidelberger Literaturherbsts.
Auf der Bühne wird es ohnehin attraktiv zugehen zwischen Performance und Akrobatik, Tanz und Workshops sowie Diskussionen mit den Künstlern als Beiträge zum zivilgesellschaftlichen Engagement. „Verhandelt werden Geschichten über das Meer, die Erde und das Weltall, über Herkunft, Sprache und Erinnerung, über wundersame Verkörperungen, biografische Wandlungen und feministische Selbstermächtigung“, werden Thematik und Anspruch im Vorwort zum Programmheft abgehandelt.
Vom Ziegenhof auf Tournee
- Die Wanderbühne Carnivore wurde 2015 von dem Heidelberger Schauspieler und Regisseur Florian Kaiser gegründet, inspiriert durch historische Vorbilder. Carnivore ist ein Beiname von Dionysos, dem antiken Gott der Maske und der Illusion.
- Der „Rohfleischesser“ verweist auf die unkontrollierte, rauschhafte Seite des Dionysos-Kultes. Freude und Lebenskraft werden durch Wein und Liebe gesteigert und dadurch das Lachen und die Maskerade entfesselt.
- Damit gibt der Name nicht nur eine Traditionslinie der Wanderbühne vor, sondern verweist mit Dionysos auch auf den Ursprung des Theaters.
- Die Eröffnungspremiere fand 2015 auf dem Ziegenhof Nußloch statt. Seitdem ist das Wandertheater aus Heidelberg auf Tournee.
- Programm und Tickets über festival.wanderbuehne.com.
Ein enormer Aufwand, der nur über das jahrelang geknüpfte Netzwerk von „Carnivore“ und vielerlei Kontakte, projektbezogene Förderanträge und einige Sponsoren einschließlich der Stadt Heidelberg gestemmt werden kann. Idealismus gehört ebenso dazu wie der Mut zur Selbstausbeutung, der so viele freie Theatermacher zu Überzeugungstätern macht. Florian Kaiser und Kerstin Kiefer wissen, wovon sie sprechen. Theaterverrückte im besten Sinne; es gibt so viel Papierkram, der den Künsten und Künstlern das Leben nicht leichter macht. Zum Beispiel das Antragsformularwesen („Ein Antrag zur Erteilung eines Antragsformulars“ hat schon Reinhard Mey gesungen), wenn die Wanderbühne hofft, ihren zur Existenz nötigen Lkw von der Mautpflicht befreien zu lassen. Hat zwar noch nicht geklappt, aber Hoffnung bleibt. Ach ja, da gab es auch Corona, und es ist immer noch schwierig, die Zuschauer zurückzugewinnen.
Doch gerade das anstehende Erste Internationale Wanderbühnenfestival stimmt die Veranstalter optimistisch, als da sind die Arbeitsgemeinschaft Spektakel, der Deutsch-Französische Kulturkreis und die Wanderbühne Carnivore. Eröffnet wird das Festival am 12. September um 19 Uhr, dann treffen sich die Künstler und Künstlerinnen zum Gedankenaustausch untereinander und mit dem Publikum. Gleich viermal tritt „La fabrique des petites utopies“ aus Grenoble auf. Das Stück erzählt von Adèle, die glaubt, der Schlüssel zum Überleben der Menschheit liegt in den Ozeanen, erzählt wird poetisch-politisch vom Zustand der Welt.
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In deutscher Erstaufführung gastiert „Plume Cabaret Nomade“ als poetisches Figurentheater; es vereint Künstler und Künstlerinnen aus Tschechien, Russland, Frankreich und der Slowakei, die zwischen Fotografie, Theater, Musik und Clownerie changieren. Gastgeber Carnivore zeigt an drei Abenden seine von Marcus Imbsweiler konzipierte Weltraumkomödie „schwerelos“ als Uraufführung. Provencalische Märchen erzählt das Théâtre Volant aus Marseille an drei Terminen, dessen Chef Jean Guillon im Gespräch auch „Deutsch ist für mich die Sprache der Freiheit“ in die Debatte wirft. Florian Kaiser präsentiert zwei Mal sein Stummfilm-Theater „Cosy & Frutte“, Carnivore ist auch mit seinem Erzähltheater „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ dabei, Elke Barker liest aus ihrem Erzählband „Und zwischen uns das Meer“.
Interessante Einblicke werden beim Gespräch über die Situation freischaffender Künstler in Deutschland und Frankreich erwartet; „Matriochka“ bringt ein Freilicht-Solo für eine Frau und ihre Marionetten auf die Bühne, und es gibt vieles, vieles mehr zwischen Kino und Workshops. Gesprächsformate arrondieren ein Spektakel, das mit der Präsentation von Büchern über indisches Wandertheater endet.
Wie lebt Florian Kaiser mit seiner Wanderbühne in Heidelberg? „Wir fühlen uns hier wertgeschätzt“.
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