Porträt - Der Heidelberger Lyrik-Experte Michael Braun erhält am 15. März in Leipzig den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik

Eine überfällige Ehrung

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Der gebürtige Pfälzer Michael Braun sieht die Lage der Literatur skeptisch, aber nicht hoffnungslos. © Rothe

Als der Anruf kommt, ist Michael Braun kurz sprachlos. „Weil ich nicht mehr daran geglaubt habe“, bekennt der Lyrik-Experte beim Kaffeehausgespräch in seiner Wahlheimat Heidelberg. Dass man ihn mit nun 60 Jahren noch für den Alfred-Kerr-Preis in Betracht ziehen könnte, darauf hatte der gebürtige Pfälzer längst nicht mehr gehofft. Schließlich ist die bedeutendste Auszeichnung, die im deutschen Sprachraum an Literaturkritiker vergeben wird, schon an deutlichjüngere Semester gegangen. Etwa 2003 an Felicitas von Lovenberg, Jahrgang 1974 und heute Geschäftsführerin des Piper Verlags, oder an die 1978 geborene Insa Wilke (2014), seit 2016 Kuratorin des Mannheimer Literaturfests Lesen.Hören.

„Dann kommt erstmal Freude auf, auch wenn man weiß, dass die damit verbundene Aufmerksamkeit von kurzer Dauer sein wird, voraussichtlich sechs Wochen – aber die sechs Wochen kann man ja genießen“, gibt Braun einen Einblick in sein leicht gemischtes Gefühlsleben. Dass er den Kerr-Preis längst verdient hätte, befindet auch die vom Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel eingesetzte siebenköpfige Jury, als sie die späte Ehre für Braun selbst als „überfällig“ bezeichnet.

Blick für poetische Talente

Und das völlig zu Recht: Schließlich agiert der Heidelberger seit Mitte der 80er Jahren als Rezensent auf konstant hohem Niveau – sprachlich, fachlich, kunsttheoretisch. Breit gebildet, nicht nur durch das Studium der Germanistik, Philosophie und Politischen Wissenschaft, samt einer nie fertiggestellten Doktorarbeit. „Wenn man so will, sind meine Rezensionen eine fortgeschriebene Promotion“, sagt er nur halb im Scherz.

Derart kontinuierliches Engagement ist seit 1977 das Kernkriterium der Kerr-Preisvergabe. Und im zu wenig beachteten Bereich Lyrik ist Braun eine absolute, wenn nicht d i e Institution. Nicht nur, weil sein einschlägiger, bei Wunderhorn verlegter Taschenkalender viel mehr ist, als der schlichte Titel verspricht. Nämlich seit Jahren eine der wichtigsten Gedichtanthologien überhaupt, die nicht nur zum Lesen von Lyrik anleitet, sondern auch mit intellektuellem Charme und Substanz dazu verführt..

Sein Blick für Substanz und poetische Qualität macht ihn außerdem zu einer Art Talentscout für Poeten. Was auch die Kerr-Juroren herausstellen: „Michael Braun kennt die Lyriker, sie kennen ihn. Oft entstehen diese persönlichen Verbindungen, bevor überhaupt ein Verlag auf einen Poeten aufmerksam geworden ist.”

Das Preisgeld von 5000 Euro wird Braun nicht für ein konkretes Projekt verwenden. „Es dient eher der Kompensation weggefallener Aufträge als freier Autor.“ Durch die Digitalisierung seien auch die „Königsmedien“ im Bereich Zeitung, Rundfunk und Fernsehen von Budgetkürzungen betroffen. Die Folgen spürt der Heidelberger nicht nur im Geldbeutel, für ihn hat auch die „maßstabsetzende, aber auch Verkäufe generierende Deutungsmacht der Literaturkritik stark gelitten“.

„Jeder kann jetzt einen Literatur-Blog machen, das ist auch in Ordnung – aber auch dadurch gibt es kein gefestigtes Zentrum der literarischen Debatte in den Feuilletons mehr.“ Potenzielle Nachfolger von Kritikerpersönlichkeiten wie Alfred Kerr, Friedrich Luft oder Marcel Reich-Ranicki, deren Rezensionen regelmäßig in Buchform erschienen, haben kaum eine Chance, eine ähnliche Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu erreichen. „Die Rezensionen in den großen Feuilletons, an denen sich alle orientieren, vor allem die Leser, fehlen.“ Auch Lektoren, Publikumsverlage und selbst die großen Auszeichnungen wie der Büchner-Preis hätten ihre maßstabsetzende Position verloren, befindet Braun. Er erwartet daher weitere große Absatzeinbrüche.

Keine Instanzen mehr

Seine bevorzugte Gattung, die Lyrik, finde ohnehin fast nur noch bei Kleinstverlagen oder nach dem Prinzip „Jeder ist sein eigener Verleger“ statt. Sein einst beim Deutschlandfunk aus dem „Gedicht des Tages“ entstandener Lyrikkalender erreicht heute beim Heidelberger Wunderhorn-Verlag Absatzzahlen, von denen die Autoren einzelner Gedichtbände nur träumen können. „Die Zeiten, als eine Ulla Hahn 40 000 Exemplare verkauft hat, oder zuletzt Jan Wagner als absolute Ausnahme, sind eigentlich vorbei.“ Gleichzeitig macht es ihn ein wenig fassungslos, wenn Literatur wie zuletzt im Fall des Gomringer-Gedichts „ciudad (avenidas)“ an der Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule unter Diskriminierungsverdacht gestellt wird. Keine literarischen Instanzen mehr, Umsatzeinbrüche, die Lyrik im Abseits.

Das mag aussichttslos klingen, aber Braun bewahrt sich bei aller intellektuellen Skepsis einen heiter aufgehellten Pessimismus. Denn: „Die Qualität der Autoren ist nach wie vor da.“ Und das ist das Wichtigste.

Braun und Deutschlands bedeutendste Auszeichnung für Kritiker

  • Michael Braun wurde 1958 im westpfälzischen Hauenstein geboren. Er lebt als Literaturkritiker, Herausgeber und Moderator in Heidelberg. Dort und in Trier studierte er von 1976 bis 1982 Germanistik, Philosophie sowie Politische Wissenschaft.
  • Braun arbeitet unter anderem für den Deutschlandfunk, SWR, Saarländischen Rundfunk, diverse Zeitungen und das Erlanger Poetenfest. 2016 hatte er eine Gastprofessur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne.
  • Von 2006 bis 2011 fungierte Braun als Herausgeber des Deutschlandfunk-Lyrikkalenders, der seit 2012 als „Lyrik-Taschenkalender“ im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn erscheint (Ausgabe 2018: 224 Seiten, 17,80 Euro).
  • Er veröffentlichte zuletzt „Der gelbe Akrobat 2. 50 deutsche Gedichte, kommentiert“ zusammen mit dem Heidelberger Autor Michael Buselmeier (Poetenladen, 186 Seiten, 18,80 Euro) und den Interviewband „Die zweite Schöpfung. Poesie und Bildende Kunst“ (Verlag Das Wunderhorn. 88 Seiten, 17,90 Euro).
  • Braun erhält den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2018 am Donnerstag, 15. März, 14 Uhr, auf der Leipziger Buchmesse.
  • Die mit 5000 Euro dotierte Auszeichnung erinnert an Alfred Kerr (1867–1948), der Literaturkritik auch als Kunstform verstand. Der Preis wurde 1977 vom Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel gestiftet. Erst seit 1996 werden einzelne Kritiker für die kontinuierliche Qualität ihrer Arbeit ausgezeichnet. Bis dahin ging der Kerr-Preis an Redaktionen.

Ressortleitung Stv. Kulturchef

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