Gesellschaftliche Teilhabe

Die „Stille Stunde“ im Heidelberger Modehaus Niebel und im Café Nomad

Entspanntes Einkaufen ohne Reizüberflutung: Das verspricht das Konzept „Stille Stunde“ in zwei Geschäften in Heidelberg. Warum das Projekt wichtig für Inklusion ist.

Von 
Rahel Adel
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Eine „Stille Stunde“ hat das Modehaus Niebel in Handeschuhsheim gemeinsam mit dem Café Nomad eingeführt. Bei der Vorstellung des Konzeptes: Suna Aslan vom Nomad (v.l.), Nicolina Visevic von ProHeidelberg, Bernd und Carmen Niebel, Bürgermeisterin Stefanie Jansen, Valerie Gebhard vom Büro der kommunalen Behindertenbeauftragten und Silvan Bock, der den YouTube-Kanal „Autist befragt Prominente“ macht. © Jegliche Verwendung ist honorarpflichtig und nur zu journalistischen/publizistischen Zwecken gestattet.

Heidelberg. Ein Piepsen hier, eine blinkende Leuchtreklame da – während des Einkaufs bei so manchen Einzelhändlern merkt man erst, wie gestresst man war, wenn man den Laden wieder verlässt. Gerade für manche Menschen im Autismus-Spektrum, hochsensible Personen oder Menschen mit neurologischen Erkrankungen wird der vermeintlich einfache Einkauf schnell zum Stress.

Um das zu ändern, führen einige Ladengeschäfte die sogenannte „Stille Stunde“ ein. In dieser Stunde werden dann beispielsweise das Licht gedimmt, die Musik ausgeschaltet und die Leuchtreklamen abgehängt. Seit dieser Woche starten in Heidelberg die ersten beiden Geschäfte mit einer solchen Aktion: das Modehaus Niebel und das Café Nomad.

Erste zwei Geschäfte in Heidelberg setzen „Stille Stunde“ um

Die beiden Unternehmen teilen sich ein Gebäude an der Dossenheimer Landstraße in Heidelberg. Und daher kam auch Idee, dass beide Geschäfte bei der Aktion teilnehmen.

„Wir wollten das schon lange machten, nur wussten wir nicht, wie“, erklärt Carmen Niebel, Inhaberin des gleichnamigen Modehauses. Im Dezember dann habe eine E-Mail des Büros der Behindertenbeauftragten sie erreicht, im Januar sei eine Besprechung erfolgt. Und jetzt, im März, ist es so weit: Die „Stille Stunde“ steht in den Startlöchern. Niebel habe auch Suna Aslan vom Café Nomad angesprochen, ob sie sich nicht beteiligen möchte.

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Und so entstand schließlich folgendes Konzept: Im Modehaus Niebel werden jeden Mittwoch von 17 bis 18.30 Uhr die Musik ausgeschaltet, blinkende Leuchtreklame ausgeschaltet oder abgehängt und keine Waren ein- und umgeräumt. Außerdem sprechen die Mitarbeiter keine Kunden aktiv an. An den Eingängen des Geschäfts hängen Schilder, auf denen entweder „Offen für Beratung“ oder „Bitte nicht ansprechen“ steht, die sich die Kunden dann nach Bedarf umhängen können.

Alle Mitarbeiter seien geschult worden, erklärt Niebel. Sie seien begeistert gewesen und hätten eigene Vorschläge eingebracht; zum Beispiel der laute Warenaufzug, der künftig nach Hinweis eines Mitarbeiters auch für die „Stille Stunde“ still steht. Auch die Rolltreppe ist während dieser Zeit abgeschaltet, ein barrierefreier Zugang zu fast allen Bereichen ist mit dem Personenaufzug trotzdem möglich. Und an der Kasse werden die einzelnen Stücke nicht abgescannt, sondern mit dem ERN-Code einzeln eingetippt. „Das dauert zwar länger, aber das ist dann eben so“, sagt Niebel. Die Uhrzeit sei strategisch gewählt: Dann stehen die Bauarbeiten auf der Dossenheimer Landstraße meist schon still.

Café Nomad an Dossenheimer Landstraße in Heidelberg beteiligt sich einmal im Monat

Das Café Nomad beteiligt sich einmal im Monat an der „Stillen Stunde“. Für ein Café ist dies eine große Herausforderung, verbinden die Gäste mit einem Cafébesuch doch eigentlich eher Geselligkeit. Im ersten Mittwoch im Monat bleibt das Nomad nun länger geöffnet. Von 16 bis 17 Uhr ist hier die „Stille Stunde“ geplant – zeitlich also eine Stunde vor dem Modehaus Niebel. So könne man entspannt zuerst einen Kaffee trinken und dann im Anschluss einkaufen gehen.

Im Nomad wird auch, so gut es geht, auf unnötige Geräusche verzichtet. Das Café stellt die Musik aus, das Licht ist gedimmt oder ausgeschaltet, es gibt in dieser Stunde keine frischgepressten Säfte, da die Saftpresse zu laut sei, erklärt Aslan. Wer während dieser Zeit nicht sprechen möchte, könne auch einfach mit einem Stift auf der Karte markieren, was er oder sie bestellen wolle. Ein entsprechender Hinweis steht auf der Karte. Außerdem ist das Café in zwei Bereiche aufgeteilt: Im vorderen Gastraum ist leises Flüstern erlaubt, im hinteren soll vollständige Stille herrschen.

Die „Stille Stunde“

Das Konzept wurde von Theo Hogg entwickelt, einem Angestellten eines neuseeländischen Supermarkts mit einem autistischen Kind .

In einigen Ländern wie der Schweiz und Großbritannien ist die „Stille Stunde“ bereits flächendeckend umgesetzt.

Während der „Stillen Stunde“ werden störende Elemente wie Musik, laute Gespräche, Piepsen und flackernde Reklame reduziert .

Interessierte Einzelhändler können sich beim Citymarketingverein Pro Heidelberg unter info@proheidelberg.de melden oder sich unter www.heidelberg.de/stillestunde informieren. Fragen beantwortet auch die Kommunale Behindertenbeauftragte unter 06221/5815590 oder unter behindertenbeauftragte@heidelberg.de . rad

Was aber, wenn in dieser Stunde Familien mit Kindern ins Café kommen? „Da werden wir streng sein“, erklärt Aslan. Vor dem Eingang steht ein Schild, auf dem auf die „Stille Stunde“ hingewiesen wird. Auch über Google Maps und die sozialen Medien will das Nomad die Kundschaft über die Aktion informieren.

„Es ist wichtig, Menschen Zugänge zu bieten, die ihnen sonst verwehrt wären“, sagt Bürgermeisterin Stefanie Jansen. Valerie Gebhard vom Büro der kommunalen Behindertenbeauftragten betont: „Inklusion ist nicht nur die typische Barrierefreiheit. Sensorische Barrieren werden oft nicht gesehen.“ Gerade diese Barrieren könnten jedoch oft niederschwellig umgesetzt werden. Auch als selbst Betroffene – Gebhard hat die Diagnose ME/CFS, eine chronische Multisystemerkrankung – freue sie sich über die Umsetzung. „Die Ruhe tut mir gut“, bekräftigt auch Silvan Bock vom YouTube-Kanal „Autist befragt Prominente“.

Carmen Niebel ruft ihre Kolleginnen und Kollegen im Einzelhandel dazu auf, sich ihr anzuschließen. „Einfach trauen, einfach mal machen“, sagt sie. Erst mal gebe es kein richtig oder falsch – keine Vorschriften, sondern lediglich Empfehlungen. Und auch das Modehaus Niebel sei bereit, bei Bedarf noch nachzujustieren.

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