„Wir konnten das in Heidelberg nicht mehr mit gutem Gewissen mitansehen“, erinnert sich Peta Becker von Rose an den Herbst 2015: Hunderte von Geflüchteten kamen jeden Tag in der Erstaufnahmestelle in Patrick-Henry-Village (PHV) an, die das Land Baden-Württemberg in aller Eile in Teilen der ehemaligen amerikanischen Siedlung eingerichtet hatte. Ein Arzt allein dort war völlig überfordert, vor allem in den Abend- und Nachtstunden sprengten Patienten und Familien die Notaufnahmen: „Die Ambulanzen der Uniklinik liefen über“, weiß Becker von Rose noch genau.
4000 bis 5000 Geflüchtete lebten zeitweise 2016 in der bald zu einem „Ankunftszentrum“ mit bundesweitem Vorbildcharakter ausgebauten Einrichtung. Zum Vergleich: Im Moment sind rund 1200 Bewohner hier untergebracht. Die Internistin aus Handschuhsheim hatte damals gerade altersbedingt und schweren Herzens ihre eigene Praxis abgegeben. „Ich hatte Zeit“, erinnert sich die Ärztin im Ruhestand.
In die neue Aufgabe brachte sie auch jede Menge Fachwissen mit, das sie bei vielen ehrenamtlichen Aufenthalten mit den „German Doctors“ gesammelt hatte: Bis vor drei Jahren verbrachte sie jedes Jahr ihre sechs Wochen Jahresurlaub bei medizinischen Einsätzen in Afrika oder Indien – um die eigene Praxis daheim in Heidelberg kümmerten sich derweil ihr Praxisteam und eine eingestellte Kollegin.
„Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, meine Fähigkeiten jenen Menschen zur Verfügung zu stellen, die am Rande der Gesellschaft leben“, sagt die Heidelbergerin, die „mit Leidenschaft“ danach sucht, wie organische und psychische Faktoren und Symptome jeweils ein Beschwerdebild ergeben – und welche Person dahintersteckt.
Mit Kollegen der neu ins Leben gerufenen „Werkstatt Gesundheit“, suchte sie nach einer Möglichkeit der Versorgung der frisch Angekommenen . In Kooperation mit der Universitätsklinik und in Absprache mit dem Regierungspräsidium entstand nach und nach ein Ambulanzsystem, das bis heute in der ehemaligen Zahnklinik der Amerikaner eingerichtet ist. „Hier fanden sich fantastische Bedingungen und vor allem viel Platz“, erinnert sich die bekannte Ärztin. „Orientieren konnten wir uns an kanadischen richtlinienartigen Konzepten für die Gesundheitsversorgung von Geflüchteten. Das deutsche Asylbewerberleistungsgesetz sieht zunächst allein die Notfall- und Schmerzbehandlung und nichts anders vor.“ Bald schlossen die Kooperationspartner Universitätsklinik, das Regierungspräsidium und der Verein „Werkstatt Gesundheit“ Verträge: „Wir arbeiten seit vier Jahren sehr eng zusammen, wir sind ein großartiges Team geworden mit jeweils Vertrauen und großem Respekt voreinander.“
Aktuell gibt es zwei Allgemeinärzte im Schichtdienst. Daneben praktizieren in vier Spezialsprechstunden eine Trauma-Ambulanz, eine Kindersprechstunde, Frauenärztinnen und ein Lungenfacharzt der Thoraxklinik. Sieben Sprechzimmer stehen zur Verfügung. Einen Sondervertrag haben zudem Hebammen, die zeitgleich mit den Gynäkologinnen praktizieren. „In die Allgemeinsprechstunden kommen am Tag 40 bis 50 Patienten“, erklärt Becker von Rose. Dazu gibt es ein ausgeklügeltes Team von Dolmetschern, ohne die jegliche Versorgung frustrierend wäre.
Es sei einiges an Pionierarbeit zu leisten gewesen, blickt die Medizinerin erneut zurück: So entstand bald ein Anamneseheft, entwickelt von der Universität. Die Liste der vor Ort notwendigen Medikamente orientierte sich zunächst an Empfehlungen der „German Doctors“. Die Uniklinik schaffte einen als Reserve aufbewahrten gynäkologischen Stuhl und Möbel herbei, die Handschuhsheimer Internistin steuerte ein Ultraschallgerät bei und auch ein EKG-Gerät gab es schnell. Im Prinzip wurde die Einrichtung von der Universitätsklinik gestellt.
Viele Geflüchtete leiden unter uns wohlbekannten Krankheiten wie Diabetes mellitus, Hochdruck und Gliederschmerzen. Patienten aus Schwarzafrika brächten unter anderem Tropenkrankheiten mit, aus Nordafrika und Osteuropa nicht selten Medikamentenabhängigkeit. Ganz wesentlich und entscheidend für die Diagnosestellung sind Herkunftsland und Fluchtweg. „Zwischen Vorderem Orient, Mittlerem Osten, Balkan, ,Ostblock’ und Schwarzafrika sind sehr unterschiedliche Krankheiten zu erwarten.“ Bei eigentlich allen Geflüchteten fänden sich Verletzungen am Körper und an der Seele, die ihnen auf dem langen Weg zugefügt wurden.“ Auch wenn die Wunden scheinbar verheilt seien, hätten sie sich „eingegraben“ in die Menschen. Schlafstörungen und Depressionen resultierten daraus und scheinbar bizarre Körperempfindungen. „Alles, was man am Körper sieht, hat eine lange Geschichte“, sagt die Medizinerin.
Neuangekommene in Quarantäne
Die Corona-Pandemie habe die Arbeit nicht leichter gemacht. Alle neu Angekommenen würden getestet und durchleben eine strenge 14-tägige Quarantäne. „Unser Coronakonzept ist hoch effizient und durch die großzügige Bebauung im PHV auch sehr gut einzuhalten.“ Die Logistik, bewerkstelligt durch das RP und die vor Ort befindlichen Betreiber, sei „bewundernswert“.
„Wir Ärzte des Vereins ,Werkstatt Gesundheit’ gehören zum größten Teil zur sogenannten Risikogruppe, da fast alle über 65 Jahre alt sind “ verweist die Handschuhsheimerin auf ihr eigenes Alter und das der meisten Kollegen. Mit Blick auf die Aussage der Kanzlerin 2015 sagt sie: „Wir schaffen das tatsächlich – und sogar viel mehr, wenn die Gesellschaft mehrheitlich zu Respekt Fremden gegenüber, Toleranz und Akzeptanz anderer Lebensformen der Geflüchteten und zu ihrer Integration bereit ist.“ Sie könne nur jede Kollegin und jeden Kollegen auffordern, „sich bei diesem interessanten und ärztlich vielfältigem Projekt zu beteiligen und zu uns zu stoßen.“
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