Zeitgeschichte - Historiker Frank Engehausen verfasst ein Buch über den Alltag der Universitätsstadt in der NS-Zeit / Seine Dokumentation schließt eine Forschungslücke

Als Heidelberg tiefbraun war

Von 
Konstantin Groß
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„Hochburg des völkisch-bornierten Nationalsozialismus“ konstatiert Frank Engehausen in seinem Buch über Heidelberg. Das Bild zeigt die Hauptstraße 1938 im „Schmuck“ von Hakenkreuz-Flaggen. © Stadtarchiv

Heidelberg. Der Stich an der Wand seines Büros ist eindrucksvoll. Er zeigt den Theologen Johannes Sylvanus, der 1572 als angeblicher Ketzer in Heidelberg hingerichtet wird. Ein Unrechtsurteil, ohne Zweifel. Unfreiwillig passt es damit irgendwie zum Thema unseres Pressegesprächs: Denn Professor Frank Engehausen hat ein Buch über Heidelberg im Dritten Reich verfasst; Schwerpunkt sind die Unrechtsurteile der örtlichen NS-Sonderjustiz.

Drei Jahre arbeitet sich der 59-jährige Historiker im Generallandesarchiv Karlsruhe durch die Akten, die trotz oder gerade wegen ihrer kalten juristischen Sprache erschüttern. Es sind Fälle von Sondergerichten, die von den Nazis eigens geschaffen werden. Das für Heidelberg zuständige hat seinen Sitz in Mannheim - und nicht in der damaligen Landeshauptstadt Karlsruhe. Wegen der starken Arbeiterbewegung empfindet das NS-Regime die Quadratestadt als angemesseneren Standort.

Die Gerichte werden mit einem umfassenden Instrumentarium ausgestattet. Am weitesten wirkt das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei“ von 1934, das jede kritische Bemerkung über das Regime kriminalisiert. Im Krieg werden die Gesetze noch schärfer. Die harmlos klingende „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ vom 1. September 1939 ahndet das Hören ausländischer Sender als „Rundfunkverbrechen“ unter bestimmten Bedingungen sogar mit der Todesstrafe.

Engehausen schildert 52 Einzelfälle, die ein Stück Geschichte des Alltags in der NS-Zeit ergeben. Vor Gericht gebracht werden sie nämlich zumeist durch Denunziationen von Nachbarn oder Bekannten, oft nach banalen privaten Streitigkeiten, führen jedoch zu harten Strafen, selbst wegen Nichtigkeiten. „Wenn ich diese Gesichter schon sehe, dann wird mir schlecht“, klagt etwa eine ausgebombte Klavierlehrerin vor Bildern von Hitler und Göring; gemäß „Heimtücke-Gesetz“ landet sie dafür sechs Monate im Gefängnis.

Historiker Frank Engehausen mit seinem neuen Buch. © Konstantin Groß

Erschütternde Todesurteile

Der Leser schwankt zwischen ungläubigem Kopfschütteln und emotionaler Erschütterung. Besonders was die Fälle betrifft, die mit Todesurteilen enden. Da ist der 18-jährige Herbert Reif, der mit seinem ein Jahr älteren Freund Hans Horn einen Autofahrer überfällt und mit einem Hammer verletzt. Obwohl der „nur“ Platzwunden davon trägt, werden die beiden am 1. Dezember 1938 in Stuttgart enthauptet.

Oder der 40-jährige Josef Eichner, der von alten Frauen mit einer Art Enkeltrick zwischen 30 und 50 Mark ergaunert. Als „Volksschädling“ wird er im Juni 1943 hingerichtet.

Oder der 53-jährige Anton Geble, der beim Klauen von Stiefeln und Schuhen erwischt, zum Tode verurteilt und am 1. Juni 1943 enthauptet wird. Fünf Minuten zuvor muss sein Sohn wegen angeblicher „Sittlichkeitsverbrechen“ an gleicher Stelle sterben. „Was sich die Verantwortlichen dabei gedacht hatten, den Vater kurz vor dem eigenen Tod die Hinrichtung des Sohnes aus unmittelbarer Nähe miterleben zu lassen, geht aus den überlieferten Akten nicht hervor“, schreibt Engehausen. Man spürt seine Fassungslosigkeit.

„Manche Fälle gehen einem nach“, bekennt der Autor. Wie der des 32-jährigen Wilhelm Fuchs. In der Gaisbergstraße stiehlt er 20 000 Reichsmark, 5000 verteilt er auf der Straße an Passanten. Am 19. März 1945 wird er zum Tode verurteilt und einen Tag danach im Steinbruch von Bruchsal erschossen - knapp zwei Wochen, bevor die Alliierten eintreffen. „Man muss sich einen Selbstschutz entwickeln“, sagt Engehausen. Denn natürlich ist er vor allem professioneller Wissenschaftler.

Doch auch wie es nach 1945 weitergeht, vermag dem Historiker zuweilen die Zornesröte ins Gesicht zu treiben. Während des Krieges sitzt Edmund Mickel dem Sondergericht vor; mehrere Todesurteile tragen seine Unterschrift. Das Entnazifizierungsverfahren übersteht er dennoch als „entlastet“. Im Unterschied zu denen, die er in den Tod schickt, kann er seinen Lebensabend in Ruhe genießen, bis er 1949 stirbt.

Eingeleitet wird die Darstellung der Einzelfälle im Buch durch einen instruktiven Blick auf Heidelberg im Dritten Reich, der eine wichtige Lücke schließt. Denn einzelne Themen wie das Schicksal der Juden oder die Geschichte der Universität in der NS-Zeit sind zwar gut aufgearbeitet, eine Gesamtdarstellung dieses Themas fehlt aber noch. Auch Aspekte wie die Ermordung von Menschen mit Behinderung oder die Arisierung harren noch ihrer Erforschung.

Engehausens Werk macht deutlich: Ungeachtet dessen, dass sich Heidelberg schon damals als Heimat des Geistes und der Weltläufigkeit inszeniert, ist die NS-Diktatur hier so brutal wie überall im Land. Auf dem Weg dorthin zeigt sich die Stadt sogar anfälliger als andere Orte. Am Ende der Weimarer Republik „war Heidelberg eine Hochburg des völkisch-bornierten Nationalsozialismus“, formuliert Engehausen.

Eine wichtige NS-Stütze bildet die Studentenschaft. Die Universität ist damals eine braune Bastion. Mit NSDAP-Mitglied Ernst Krieck wird 1937 ein ehemaliger Volksschullehrer ohne Abitur ihr Rektor, sein Nachfolger Paul Schmitthenner hält noch wenige Tage vor Einmarsch der Amerikaner Durchhaltereden, in denen er sogar Kinder zu den Waffen ruft. „Wer weiß, wie viele junge Leute dadurch den sinnlosen Tod gefunden haben“, seufzt Engehausen.

Nachkriegsehren für Nazi-OB

Eine zweite Karriere gar legt der Oberbürgermeister der Nazi-Zeit hin: Das NSDAP-Mitglied Carl Neinhaus, dessen Unterschrift manches Arisierungsdokument trägt, wird nach dem Krieg Landtagspräsident, 1952 erneut zum Oberbürgermeister gewählt, erhält das Bundesverdienstkreuz, die Ehrenbürgerschaft Heidelbergs und ein Ehrengrab der Stadt - bis 2022 dieser Ehrenstatus aberkannt wird. Den Ausschlag dafür gibt ein Gutachten, das Engehausen für den Heidelberger Gemeinderat verfasst. Auch sonst engagiert sich der Historiker für die Erinnerungskultur, etwa in der Straßennamenkommission, die historisch belastete Bezeichnungen untersucht.

Derzeit arbeitet er aber an einem Projekt, mit dem er zu seinen Wurzeln zurückkehrt: 175 Jahre Paulskirchen-Parlament 2023. „Dafür“, so meint er schmunzelnd am Ende des zweistündigen Gesprächs mit diskretem Blick auf die Uhr, „muss ich noch einiges tun.“

Das Buch: Frank Engehausen: „Tatort Heidelberg“, 380 Seiten, Campus-Verlag, 34 Euro

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