Speyer. „Wo waren wir stehengeblieben?“, rekurriert Wladimir Kaminer zum Auftakt seiner Gastspiele gerne auf seinen jeweils vorangegangenen Besuch. Beim Kulturbeutel im Alten Stadtsaal muss er da schon weit zurückdenken: Mehr als sechs Jahre ist es her, dass er mit „Das Leben ist (k)eine Kunst“ sein damals neustes Buch mit nach Speyer brachte – und ungefähr genauso wenig daraus vorlas wie diesmal aus „Wie sage ich es meiner Mutter?“
Der Begriff Lesung deckt das Geschehen bei Auftritten des gebürtigen Moskowiters, der seit 1990 in Berlin lebt, nur unzureichend ab. Anstelle des erst im September erschienenen neuen Druckwerks greift er oft zu lose zusammengehefteten DIN-A4-Ausdrucken, auf denen seine Geschichten aus dem Alltag des Landes, seines Berliner Mehrfamilienhauses und zuvorderst seiner Familie festgehalten sind.
Ein steter Quell von Heiterkeit im ausverkauften Alten Stadtsaal sind Wladimir Kaminers Vermittlungsversuche zwischen seinen Kindern Nicole (26) und Sebastian (23) und seiner Mutter, die im Dezember 91 wird, „voll fit“ sei und wegen Corona mehr Spritzen bekommen habe als in den 90 Jahren zuvor: „Sie ist jetzt ein einziger Antikörper.“
Er benutze seine Familie gerne als „Laborkaninchen“: Erkenntnisse über die Zukunft ergäben sich schließlich aus den Gesprächen zwischen den Generationen. Als typische Vertreter der ihren seien seine Kinder sehr enthusiastisch dabei, „diese neue ökologisch gerechte, genderneutrale Welt aufzubauen“. Auf der Suche nach Umweltsündern stießen sie immer wieder auf ihre Oma, die falsch einkaufe, koche – falsch lebe.
Urkomische Lockdown-Episoden
Über Corona hat der 55-Jährige eine „zweibändige Trilogie“ verfasst. Es ist typisch für Kaminers hintergründigen Humor, dass seine Erinnerungen an den Beginn des ersten Lockdowns am 13. März 2020 so witzig daherkommen. Im fast leeren Bahnhof von Baden-Baden standen außer ihm nur noch zwei Zeugen Jehovas: „Ich habe diese Menschen noch nie so gut drauf erlebt.“ Richtig verunsichern konnten sie ihr Gegenüber nicht: Für Leute wie ihn gebe es beim jüngsten Gericht einen besonderen Platz, teilte er ihnen mit: „Sie kommen nicht in die Hölle und nicht ins Paradies – sie bleiben für immer in Deutschland, dürfen aber kein Bier vom Fass trinken.“
Urkomisch sind seine Schilderungen über die Absurdität von Ausgangssperren nach 22 Uhr im ländlichen Brandenburg, wohin er mit seiner Frau zunächst zog: Es gebe dort weder Straßenlaternen noch Kneipen, abgesehen vom „Haus des Gastes“, das schon vor Covid-19 nur einmal pro Woche geöffnet hatte.
Weil er seit seiner sowjetischen Kindergartenzeit ein starkes Misstrauen gegen Kollektive hege, weigerte er sich, mit seiner Berliner Hausgemeinschaft zu singen oder ein Vogelhaus zu bauen, in das Singvögel einziehen sollten, das dann aber von Tauben bezogen wurden. Die wurden sogleich wieder herausgemobbt.
Angesichts der immer größer werdenden russischen Community – viele Menschen verlassen das Land, um nicht für Putins Krieg rekrutiert zu werden – sinniert Kaminer über jene Migranten-Initiative, die wünscht, die EU solle einen „Gutrussenpass“ ausstellen für jene, die den Krieg verurteilen und das Regime verteufeln. Viele fragten da beunruhigt: „Wie gut muss man denn sein? Reicht nicht auch ein Okayrussenpass?“ Er zählt sich – obwohl längst deutscher Staatsbürger – zur zweiten Kategorie.
Nach rund einer Dreiviertelstunde liest Kaminer tatsächlich aus seinem neuen Buch: Über den Konflikt, in den seine Mutter mit ihren Enkeln durch den Einsatz einer elektrischen Fliegenklatsche gerät – deren Anwendung verstoße gegen die Grundsätze der ökologischen Gerechtigkeit – köstlich wie so vieles, das er vorträgt. Dass nur wenige Episoden hinzukommen, stört niemanden: Seinen Erzählungen könnte man noch stundenlang zuhören, sind sich alle einig. Und der Büchertisch ist am Ende leergekauft.
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