Speyer. Wer ein paar Jahrzehnte in die Vergangenheit reisen möchte, der braucht keine Zeitmaschine. Es reicht ein Besuch in einer der ältesten Weinstuben, die es im Umkreis von 100 Kilometern rund um Speyer gibt. Wer den Gastraum betritt, der wird quasi aufgesogen von gelebter Geschichte, die in Dutzenden Fotos an den Wänden steckt. Hier begegnet den Gästen der langjährige Stammgast und jüngst verstorbene rheinland-pfälzische Ministerpräsident Bernhard Vogel. Hier lachen gekrönte Fasnachtshäupter der 60er-Jahre aus leicht vergilbten Fotorahmen. Und vor allem lernt man Inge in x verschiedenen Variationen kennen. Fazit: Sie ist sich während der 70 Jahre Narrenstübchen treu geblieben.
Inge, das ist Inge Fleischmann, die in Speyer bereits zu Lebzeiten zum Kult geworden ist und als „Grand Dame“ der Speyerer Gastronomie gilt. Die Frau, die stets gut frisiert am Samstagmorgen auf dem Wochenmarkt einkauft. Die Frau, deren Fingernägel in klassischem Karminrot leuchten, hat – auch wenn sie meist Röcke trägt – noch immer die Hosen an in ihrem Narrenstübchen. Mit ihren 88 Jahren strahlt sie eine Autorität und eine Disziplin aus, der man sich gar nicht widersetzen möchte. Es ist Montagnachmittag, 17 Uhr, und welche Weinstube kann schon von sich behaupten, um diese Uhrzeit zu Wochenbeginn bis auf den letzten Platz gefüllt zu sein. In dieser urzeitlichen Enklave, in der die Uhren langsamer zu ticken scheinen, werden bereits um 18 Uhr leicht zotige Witze erzählt. Hier wird gemeinsam gelacht. Hier wird die Vergangenheit gefeiert und die Zukunft gerne ausgespart.
Die drei Stufen zur Küche sind wie Alpe D’Huez
Inge Fleischmann balanciert um 21 Uhr ein Glas mit Rieslingschorle durch die eng stehenden Stuhlreihen. Sie spürt, dass ihr das nicht mehr so leicht fällt wie noch vor zwei Jahren, als wir sie das letzte Mal besucht haben.
„Es beschäftigt mich, wenn Leute sterben“, sagt sie plötzlich, nachdem sie sich zum Verfasser dieses Textes an den Tisch gesetzt hat. So wie ihre 61-jährige Hilfskraft, der ihr oft zur Hand gegangen ist. Es ist gar nicht lange her, da sei er wegen Schmerzen früher nach Hause gegangen und am nächsten Tag tot gewesen, erzählt Inge nachdenklich. So geht es ihr inzwischen mit vielen Leuten. Auf seiner Beerdigung ist sie wenige Tage später gewesen. Danach hat sie weiter ihren Job gemacht, den sie sehr gerne noch länger behalten würde – wenn nur das Laufen nicht wäre. Die Beine sind nicht mehr so stark und die drei Stufen zur 60er-Jahre-Küche sind für sie ein kleines Alpe D’Huez.
Geschlossen ist bei ihr nur dienstags und samstags, an den restlichen Tagen steht sie nach einem einstündigen Mittagsschlaf spätestens um 15.30 Uhr im Narrenstübchen und kann darauf wetten, dass um 15:59 Uhr die Tür aufgeht und der erste Gast erscheint. Ab da gehen mehr als 30 Essen aus der Küche nach draußen. Und Dutzende Getränke. Alexander, eine junge Aushilfe, unterstützt Inge seit einiger Zeit. Dass diese Weinstube mitsamt seiner Betreiberin ein Unikat ist, hat auch er schnell gelernt.
Die ganze Geschichte kennt er noch nicht. Etwa, dass Inge Fleischmann mit dem später berühmten italienischen Designer Luigi Colani liiert war. Er zeichnete eine Karikatur von seiner damaligen Freundin, die noch immer an der Wand hängt. Wer die Wirtschaftswunder-Jahre der jungen Bundesrepublik seit Theodor Heuss nochmal nacherleben möchte, der fühlt sich hier wohl. Es war Inges Vater Wilhelm Fleischmann, der das Lokal 1955 eröffnet hat. Dem Stil ist seine heute 88-jährige Tochter immer treu geblieben. Dafür ist sie bekannt. 80 Prozent der Menschen, die hierherkommen, sind Stammgäste. Inzwischen kommen sie häufig auch aus der kurpfälzischen Nachbarschaft von der anderen Rheinseite.
Kein „Dinner for One“ zum 90. Geburtstag
Und: Es ist wirklich so, dass hier ältere Doktoren neben älteren Handwerkern sitzen. Wo findet man sich noch in solch trauter Runde? „Über Politik wird heute weniger gesprochen als früher“, findet die Narrenstübchen-Chefin jedoch. Sie selbst ist stets so neutral, wie man nur sein kann. Als Gastgeberin habe sie sich rauszuhalten, findet sie.
Am 5. Juli steht der 70. Geburtstag der Weinstube an. Gefeiert wird aber nicht großartig. „Nur im Familienkreis“, sagte Inge, die acht Geschwister hatte, von denen die meisten noch leben. Danach nahen die Monate der letzten Entscheidung, denn der Familienrat hat beschlossen, die Immobilie zu verkaufen, wenn Inge im Narrenstübchen für immer abschließt. Dass sie noch bis zu ihrem 90. Geburtstag weiter macht und dann wie beim legendären „Dinner for One“ alleine am Tisch sitzt, ist jedenfalls kaum vorstellbar.
Schon jetzt genießt sie es, einfach mal zu Hause zu sein. Am Samstagabend den Fernseher anzuschalten und in 3sat die Puccini-Oper Turandot zu schauen, ist für sie pure Entspannung. Außerhalb der eigenen Weinstube gibt es dann auch mal ein Gläschen Wein. Vorbei sind die Zeiten, in denen Inge zweimal pro Jahr nach Gran Canaria gereist ist. Wer Inge fragt, ob sie im Leben etwas verpasst hat, der bekommt eine ehrliche Antwort. Sie hätte gerne etwas mehr von der Welt gesehen. Andererseits ist es so, dass sich die ganze Welt manchmal auch in einer kleinen Weinstube abspielen konnte. Und davon kann wohl niemand besser erzählen als Inge. Sobald sie zuschließt, wird sie fehlen.
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