Speyer. In ihrem aktuellen Roman „Aufklärung“ befasst sich Angela Steidele mit einem entscheidenden Kapitel der europäischen Geistesgeschichte. Gilt der Blick zurück auch einem historischen Interesse, so dient er doch in erster Linie dazu, Antworten auf gegenwärtige Fragen zu finden. Im Verlauf ihrer Lesung bei Speyer.Lit macht die Autorin deutlich: „Wir brauchen eine neue Aufklärung.“
Einfühlsam und stoffsicher befragt von Moderatorin Christine Stuck, gibt die in Köln lebende freie Schriftstellerin ausführlich Auskunft über Motivation, Stilistik, Organisation und Hintergründe ihres Romans. Hat sich Angela Steidele in ihrem bisherigen Œuvre besonders mit historischen Frauengestalten beschäftigt, die sie laut Christine Stuck „aus der Dunkelheit ans Licht gebracht“ hat, so spielt auch in „Aufklärung“ eine weibliche Figur eine zentrale Rolle.
Tochter eines berühmten Thomaskantors als Erzählerin
Es ist Dorothea Bach, die älteste Tochter des berühmten Thomaskantors. Sie ist zudem, aus auktorialer Perspektive, die Verfasserin dieses Buches. Durch ihre Erzählungen werden wir zu unmittelbaren Zeugen des Milieus, des Zeitgeistes und der gesellschaftlichen Konventionen jener aufklärerischen Bewegungen, in deren Brennpunkt die Stadt Leipzig verortet wird.
Damit lenkt die Autorin den üblicherweise auf Immanuel Kants Königsberg fokussierten Blick weg auf einen Schauplatz, der aus ihrer Sicht zu Unrecht ausgeblendet wird. Er ist mit dem Namen des Schriftstellers, Dramaturgen und Literaturwissenschaftlers Johann Christoph Gottsched verknüpft. Ihm rechnet Angela Steidele wichtige Verdienste etwa für die Bedeutung von Kunst und Ästhetik zu, was die Ausbildung eines kritischen Verstandes anbelangt.
Entsprechend hat sie auch ihr inbrünstiges Veto für zeitlos gültiges aufklärerisches Denken angelegt: Keine theoretische oder biografische Abhandlung, zu der die promovierte Geisteswissenschaftlerin durchaus in der Lage wäre. Stattdessen ein romanhaftes Erzählen, das sich eng an historischen Begebenheiten orientiert, uns Leser aber zu Betrachtern von bühnen- und filmreifen Szenen macht, die so lebhaft und detailreich geschildert sind, als spielte sich das barocke Leben in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch einmal vor unseren Augen ab.
Akribische Recherche als Grundlage für Authentizität
Eine so authentisch und stilsicher wirkende Schilderung ist nur möglich auf der Grundlage akribischer Recherchen, die alle historisch relevanten Facetten berücksichtigt: Sitten und Gebräuche, Lokalitäten, Sprachverständnis, Kleiderordnungen, Mentalitäten, zeitgenössische Diskurse und dergleichen. Der Roman wirkt deshalb so wenig konstruiert und in seiner darstellerischen Kraft so überzeugend, da die Autorin ihr enzyklopädisches Wissen ebenso unauffällig wie seriös einsetzt.
Manche literarische Lesung entbehrt der Begründung, weil sie hinter dem primären Ereignis der Lektüre zurückbleibt. Doch Angela Steidele verleiht ihrem Vortrag in Speyer eine hohe Erlebnisqualität, indem sie die Figuren in den einzelnen Szenen spielt, sie gestisch und in unterschiedlichen Tonfällen porträtiert und sich ihre charakteristischen Eigenarten anverwandelt. So hören wir den großen Johann Sebastian Bach – wiewohl er aus Thüringen stammt – mit sächsischem Dialekt.
Doch man würde die Qualitäten dieses Romans unterschätzen, würde man ihn lediglich als historisches Dokument würdigen – wenngleich er das, etwa auch dank der vielen überlieferten schriftlichen Zitate, durchaus auch ist. Stattdessen lässt sich der Roman als Mahnung lesen, das Zeitalter der Aufklärung nicht als beendet zu betrachten. Im Gespräch mit Christine Stuck begründet die Autorin, warum sie das so sieht: „Weil wir in neo-irrationalen Zeiten leben.“ Sie erfasse geradezu Verzweiflung in Anbetracht aktueller Entwicklungen, in denen Verschwörungstheorien oder Demokratieskepsis auf immer fruchtbareren Boden fielen.
„So aktuell habe ich mir den Roman nicht gewünscht“, räumt Angela Steidele auch mit Blick auf den Vergleich ein, der sich in der Rückschau auf den Siebenjährigen Krieg in Europa von 1756 bis 1763 mit dem russischen Angriff auf die Ukraine aufdrängt. Für ihre Schlussfolgerung erhält sie vom Publikum kräftigen Applaus: „Das, wofür die Aufklärung steht, ist aktueller denn je.“
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