Speyer. Was bringt 300 Menschen dazu, sich am schönsten Samstagabend einen Vortrag über die Charaktereigenschaften von Psychopathen anzuhören? Die Frage ließ sich auch nach drei Stunden nicht befriedigend klären. Denn Lydia Benecke hatte für ihren ausverkauften Auftritt bei der Autorenreihe Speyer.Lit zwar einen reißerischen Titel gewählt: „Die Psychologie des Bösen“, doch wer erwartet hätte, mit gruseligen Geschichten oder haarsträubenden Fallbeispielen in die abenteuerliche Welt einer Profilerin entführt zu werden, wurde enttäuscht.
Die Diplom-Psychologin arbeitet seit 2009 unter Gewalt- und Sexualstraftätern. Ihre bislang veröffentlichten Bücher werden von Sadisten und Psychopathinnen bevölkert. In Radio, Film und Fernsehen hat die Expertin für menschliche Untiefen mittlerweile ein deutliches Profil. Dies dürfte denn auch das hohe Interesse an ihrem Vortrag in Speyer erklären. In der Pause gehen zahlreiche Karten und Bücher über den Ladentisch, die Lydia Benecke signiert und obendrein bereitwillig für Selfies posiert.
Die Präventionsbehandlung bei rückfallgefährdeten Sexual- und Gewaltstraftätern ist Kern ihres Berufs, wie die Referentin erläutert. Worum es ihr an diesem Abend geht, ist vor allem das Aufräumen mit Klischees. Nicht jeder Psychopath sei ein Serienmörder und entwickle sich zu einem Monster alias Hannibal Lecter („Das Schweigen der Lämmer“). Nicht jedem Psychopathen sei ein Tötungstrieb eigen. Unterdessen zeichne Menschen mit psychischen Störungen, die zu Gewalt gegenüber ihren Mitmenschen neigen, in der Regel ein niedriger Puls aus, wie Lydia Benecke ein statistisches Kuriosum aufgreift.
Dieses beansprucht allerdings Evidenz: Denn wer mehr oder weniger frei von Angst ist, keine Konsequenzen seines Fehlverhaltens fürchtet und wenig Mitgefühl für seine Opfer aufbringt, kann auch nach Gräueltaten cool bleiben. Lange hält sich die Referentin mit solchen, offenbar typischen Charaktereigenschaften ihrer Klientel auf. Dabei betont sie, dass der Übergang von einem bestimmten Persönlichkeitsstil zu einer Persönlichkeitsstörung in der Regel fließend sei. Zu den Fehlannahmen, die sich etwa Kinothriller leisten, gehöre unter anderem auch die Behauptung, dass Psychopathen über eine hohe Intelligenz verfügten. Stattdessen sei der Intelligenzgrad unter Psychopathen statistisch genauso entwickelt wie in der Normalbevölkerung.
Biologische sowie Umweltfaktoren
Wer nun mit den von Lydia Benecke akribisch erstellten Listen von Persönlichkeitsmerkmalen eines Psychopathen durch seinen Alltag geht und seine Mitmenschen auf mögliche Übereinstimmungen abscannt, kann ebenso auf Irrwege geraten. Davor warnt die Referentin ausdrücklich. Die Zuordnung solcher Eigenschaften gehöre vielmehr in die Hand von Experten. Entscheidend für das Feststellen eines psychopathischen Profils sei die spezifische Mischung dieser Merkmale und die gesamte Konstellation an Wesenseigenschaften.
Als Ursachen für eine psychopathologische Veranlagung nennt Benecke sowohl biologische als auch Umweltfaktoren. Dabei lässt sie ihr Publikum in den Kopf eines Psychopathen schauen: Ein von 1823 bis 1860 lebender Mann namens Phineas Gage habe bei Bauarbeiten eine Schädel- und Gehirnverletzung erlitten, die seinen Charakter komplett verändert habe. Doch nach einer gewissen Zeit seien seine ursprünglichen Wesenszüge wieder deutlicher in Erscheinung getreten. Ein Beleg, dass es das menschliche Gehirn vermag, zerebrale Dysfunktionen teilweise zu ersetzen.
Demnach kommt ein Mensch nicht als Psychopath auf die Welt – und er muss es nicht ein Leben lang bleiben. Vom Grauen, das uns Betroffene einflößen können, lebt vor allem das Thrillergenre. Die Autorin und TV-Psychologin Lydia Benecke kann es sich bei ihren öffentlichen Auftritten leisten, sich auf eine populärwissenschaftliche Darstellung des Phänomens der Psychopathologie zu beschränken. Das hat keinen großen Unterhaltungswert; der Verzicht auf skandalöse Zuspitzungen ist einer Versachlichung des Themas aber gewiss dienlicher.
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