Reilingen/Speyer. Meist hörte man ihn schon, bevor man ihn sah. Otmar Geiger (65) hat eine tiefe Stimme. Und wenn er in sein Gewand geschlüpft war und sich hernach anschickte, ganzen Menschentrauben, die sich um ihn herum bildeten, seinen Job im ausgehenden Mittelalter zu erklären, dann war er in der Rolle, die ihm 20 Jahre lang wie auf den Leib geschneidert war. Vorbei an Speyerer Eiscafés und Weinstuben suchte er manchmal auch das Gespräch mit dortigen Gästen oder reagierte auf Zwischenrufe von „den billigen Plätzen“. Der Nachtwächter als Lebemensch. Damit ist jetzt Schluss. Geiger hat die Rolle abgelegt und nennt dafür auch Gründe.
„Ich musste feststellen, dass diese von vielen Menschen in der Region und darüber hinaus geliebte und geschätzte, historische Figur in der von mir dargestellten Art nicht mehr in die inzwischen veränderte Zeit passt“, sagt der vierfache Vater, der im wahren Leben Pressesprecher bei der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel- und Gastgewerbe ist. Im Jahr 2013 war er als unabhängiger Bürgermeisterkandidat für Reilingen angetreten.
Als „unser Nachtwächter“ wurde er von den Speyerern viele Jahre vereinnahmt. Kritik häufte sich aber seit dem Jahr 2017 immer öfter an der derben Dialektsprache, die der historischen Figur zugedacht ist. Es ist die Sprache des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. Von „Weibern“ war da die Rede, von Zigeunern, Muselmanen und fahrendem Volk. Nach den im Speyerer Stadtarchiv vorhandenen Beschreibungen ist der Nachtwächter leicht überheblich, herrisch, scheinbar frauen- und ausländerfeindlich und hin und wieder auch bösartig - besonders „Schwoowe“ (Schwaben) gegenüber. So hat Geiger die Rolle interpretiert. Das Spiel „uff de Gass“ sei aber nie ernst gemeint , sondern stets mit einem Augenzwinkern versehen gewesen.
Nach Geigers Wahrnehmung wurde das über viele Jahre auch so verstanden. Den meisten Besucherinnen und Besuchern (und auch ihm selbst) habe die Figur viel Spaß bereitet. In den beiden Jahren vor der Pandemie-bedingten Zwangspause habe es aber verstärkt Diskussionen und Aufregungen während der Rundgänge gegeben. Die Figur sei zu ernst genommen und oft auch nicht richtig verstanden worden, findet Geiger. Den Menschen fehle mitunter der Humor. Es sei vorgekommen, dass er Rundgänge, die am Dom starteten, bereits 200 Meter weiter abgebrochen habe. Es seien vor allem Teilnehmerinnen gewesen, die sich lautstark dem „arroganten und frauenfeindlichen Nachtwächter“ entgegengestellt hätten. Dies wiederum habe zu Unmut und Missstimmungen bei weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern geführt. Ihn erinnere die Debatte ein wenig an die für Geiger unglaubliche Diskussion über den Sarotti-Mohren im Foyer des Mannheimer Capitols. Die Dinge müssten aus der Perspektive der jeweiligen Zeit gesehen werden, findet er.
Irgendwann, so Geiger, sei aber auch bei ihm der Punkt erreicht gewesen, an dem er sich gefragt habe, ob das so alles noch Sinn mache. In der Hochphase der Corona-Pandemie habe er sich schließlich entschieden, den „wohlleiblichen Herre Nachtrath zu Speier“ in seinen wohlverdienten Ruhestand zu versetzen.
Vielleicht sei nach 20 Jahren auch einfach die „Luft raus“, sagt Geiger. Womöglich seien es auch einfach zu viele Rundgänge gewesen - insgesamt schätzungsweise 2500. Einmal waren es 312 Personen, die ihm folgten. Sollten es ursprünglich nur die Vollmondtage sein, wuchs sich die Beliebtheit schnell zu mehreren Veranstaltungen pro Woche aus. Geiger spendete in dieser Zeit viel Geld für verschiedene Projekte - vom Kindernotarztwagen bis zur Fluthilfe. Insgesamt um die 45 000 Euro. Ihm und seiner Frau Regina, die ihn oft begleitete, sei es ein Anliegen gewesen, an manchen Stellen in der Region Speyer und Hockenheim unbürokratische Hilfe zu leisten.
Ganz verloren ist Geiger für die Touristen in Speyer aber nicht. Es mache ihm noch immer sehr viel Spaß und Freude, Heimatfreunde sowie Besucher und Gäste aus aller Welt mit Geschichte(n) aus Speyer und der (Kur-)Pfalz zu unterhalten, und ihnen das Leben in vergangenen Zeiten näherzubringen. Daher erarbeitet er derzeit ein neues Format der Darstellung. Er werde seine Geschichtsspaziergänge unter dem Motto „Freitags um Vier, Geschichte(n) von hier“ wieder aufnehmen.
Noch nicht spruchreif ist ein anderes Format, das sich mit dem Altpörtel und seiner Geschichte beschäftigen könnte. Vielleicht taucht Geiger als „Türmer“ wieder auf, dessen Beobachtungen vom Turm neue Anreize für Besucher bieten könnten - ohne Weiber und fahrendes Volk...
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