Worms. "Der Sturmwind bricht die zarte Blüte ... Der Fluggast bricht in seine Tüte". Nur ein Vielflieger mit bald 1,3 Millionen Flugkilometern auf dem Buckel, der niemals eine Spucktüte braucht, kommt auf die Idee, diese Visitenkarten der Lüfte als Souvenir zu sammeln - und in Wettbewerben mit Gleichgesinnten Limericks über sie zu dichten.
Gerd Clemens aus Hamm bei Worms ist einer von ihnen. Den Geschäftsführer eines Klebstoffherstellers zieht es in seiner Freizeit in sein privates Tütenarchiv mit 50 gut gefüllten Leitz-Ordnern. Darin stecken mehr als 3250 verschiedene Spucktütenmodelle von über 850 Fluggesellschaften, alles alphabetisch sortiert und mit Informationen zu den Fluggesellschaften bestückt.
Werbung für "Starwars", Fotos oder witzige Tüten-Designs im Manga-Stil verraten, dass auch die Fluggesellschaften das Werbepotenzial dieser Notfallausrüstung entdeckt haben.
Auf seinen Binnenflügen in Ländern wie Indien und China mit ständig neu entstehenden und sterbenden Fluggesellschaften sammelt Clemens Informationen über die Airline und ihre Lebensdauer und notiert sich, wie Flug und Service waren. Auch seine Geschäftspartner sammeln mittlerweile für ihn mit. Von Lufthansa, KLM oder Thai Airways besitzt Clemens aus über 25 Flugjahren mittlerweile 15 verschiedene Modelle, ein Kaleidoskop wechselnder Firmenimages .
Die russische Aufschrift auf einer Lufthansa-Tüte von 1958 brachte den leidenschaftlichen Sammler auf die interessante Geschichte, dass es in den 50er Jahren neben der westdeutschen auch eine "Deutsche Lufthansa der DDR" gab, die ebenfalls einen Kranich im Logo führte. Erst 1963 schwenkte die DDR-Führung um und bildete stattdessen die Gesellschaft "Interflug". Humor und Biss auf ihren Tüten zeigte die frühere Ryanair-Konkurrenz HLX, heute Teil der Dachmarke "TUIfly". "Ganz easy hier ryan" stand da frech auf den gelben Brech-Tüten zu lesen, oder "Brechen Sie mit der Konkurrenz". Deutschen Fluggesellschaften bescheinigt Clemens eine besondere Kreativität bei der Erfindung sinnreicher Aufschriften. Gesellschaften wie die nepalesische Yeti Air zeigen die realitätsnahe Zeichnung einer über die Tüte gebeugten Inderin mit langem Zopf - verständlich auch für nicht alphabetisierte Fluggäste. Doch Clemens' Lieblingsmotiv bleibt das Eiswürfel speiende Rentier der Finnaviation (heute Finnair).
Ostblock-Ware heiß begehrt
Heiß begehrt sind auch die Tüten ehemaliger Ostblock-Fluggesellschaften. So erwarb Clemens etwa die Interflug-Tüte eines Sammlers, dessen Vater sie 1958 als Student auf seinem Flug von Erfurt nach Budapest als Souvenir eingesteckt hatte.
Die wertvollste Tüte erzielt bei Ebay 430 Euro. Es handelt sich um eine Tüte mit der verräterischen Aufschrift "Nach Gebrauch nicht aus dem Flugzeug werfen". Die Zeiten, als Passagiere noch etwas aus dem Flugzeug werfen konnten, vermutet Clemens in den 30er Jahren.
Als Global Player ist Clemens selbstverständlich bestens vernetzt. Fast alle seine Tüten sind eingescannt und archiviert auf der Webseite www.baghecht.de, die er mit anderen Sammlern pflegt. "Barf bags" oder "pukes" werden die Sammlerobjekte im Fachjargon der Community genannt, die von Neuseeland und Japan bis Argentinien, Kanada und Israel reicht. "Erst vor fünf Jahren entdeckte ich, dass es eine Community von Sammlern im Internet gibt", erzählt Clemens.
Ein bis zwei mal jährlich trifft man sich zum Austausch - meist in Flughafennähe. Die Fleißigsten haben es auf 8000 Tüten gebracht. Ein echter Sammler steckt daher schon mal ein paar Exemplare mehr ein.
"Die Stewardessen kennen das Sammlerphänomen mittlerweile", erzählt Clemens. "Negative Reaktionen kommen höchstens mal von ängstlichen Sitznachbarn, die sich vorsichtshalber wegsetzen, wenn einer neben ihnen mehrere Spucktüten einsammelt." Richtig schlimm wäre für Clemens, wenn sich der amerikanische Trend zum "Generic bag" durchsetzen würde, einer schmucklosen Tüte ohne jedes Design. "Dann müsste ich wohl safety cards (Pappen mit Sicherheitshinweisen) oder Fächer sammeln", grübelt Clemens.
Mangels Air Condition verteilten früher tatsächlich einige Airlines Papierfächer an ihre Gäste. Eine Handvoll besitzt Clemens schon.
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