Speyer. Richtig kritisch ist es erstmals, als Heiko Schanninger auf dem rund drei Kilometer langen Weg zu seinen Eltern, die im Westen von Speyer wohnen, am 6. Juli 2022 für einige Sekunden das Bewusstsein verliert. Da zeigt ihm sein Körper: bis hierhin - und auf keinen Fall weiter. Mehr als eineinhalb Jahre ist das jetzt her. Es ist damals Hochsommer, aber der Platz des jetzt 41-jährigen ehemaligen Leistungssportlers ist fortan nicht am Ufer eines Speyerer Sees, sondern tendenziell im Bett oder auf der Couch. Zwischen Weihnachten und Silvester 2023 lässt er im Gespräch mit dieser Redaktion die wohl schwierigste Zeit seines Lebens vor seinem geistigen Auge ablaufen.
Puls von 180 nach Gang zum Bäcker
Vorbei ist noch nichts. Schanninger leidet sehr wahrscheinlich unter einer Long-Covid-Erkrankung. Ganz genau weiß man das aber nicht, denn das sogenannte Fatigue- oder auch Erschöpfungssyndrom gab es auch schon vor Corona. In diesem Fall scheint es offenbar miteinander in Verbindung zu stehen. Im Juni 2024 winkt Schanninger endlich ein Platz in der Post-Covid-Ambulanz in Worms.
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Es kostet ihn bis heute sehr viel Kraft, die Treppenstufen hinauf in den zweiten Stock hinter sich zu lassen. Und es dauert bis heute einige Minuten, ehe der Puls von 180 wieder auf ein normales Maß gesunken ist.
Dreifach mit Biontech geimpft
Früher hat dem Ex-Hockeybundesligaspieler (Stationen in Hamburg und München, heute HC Speyer) das alles gar nichts ausgemacht, aber nach dem 29. Juni 2022 ändert sich das schlagartig. Trotz einer dreifachen Impfung mit dem Vakzin von Biontech erkrankt der gelernte Großhandelskaufmann an Corona. Er liegt eine Woche richtig flach - teilweise mit 40 Grad Celsius Fieber, wie er erzählt. Anschließend sind zwar die Tests wieder negativ, sein Gesundheitszustand bessert sich aber kaum. „Ich habe über drei oder vier Monate fast nur geschlafen“, erinnert er sich. Allein der Weg zum Bäcker und zurück belastet ihn zu diesem Zeitpunkt derart, dass danach acht Stunden Schlaf nötig sind.
Monatelang fast nur geschlafen
Sein Hausarzt kann aber organisch keine Ursache ausmachen - ein Typ vom älteren Schlag ist das. „FDH“ (Friss die Hälfte) soll Schanninger auf dessen Rat hin versuchen. Schanningers Herz ist in Ordnung, die Blutwerte ebenfalls - nur der Puls bleibt lange hoch. Was der Ex-Hockeyspieler auch feststellt: Nach dem Schlaf ist er keineswegs erholt. Ein Schlaftherapeut diagnostiziert eine Sauerstoffschuld - eine Schlafapnoe. Einmal holt Schanninger über eine Minute keine Luft.
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Bis zu 80 Mal geschieht das pro Nacht, wie der Therapeut dokumentiert. Inzwischen nimmt der gebeutelte Mann richtig zu. Statt 80 sind es zwischenzeitlich 112 Kilogramm. Er unternimmt jetzt Spaziergänge mit seinem Vater, der fitter ist als er. Im April 2023 kann er erstmals wieder 45 Minuten am Stück gehen, ohne völlig schlapp zu sein. Aber auch damals fällt der Puls nie unter den Wert von 100 pro Minute. Gerne würde er sich schon damals in die Hände von Experten begeben, aber am Uniklinikum in Heidelberg sagt man ihm, dass es zu viele Patienten gebe und man aus Rheinland-Pfalz niemanden mehr aufnehmen könne.
Uniklinik lehnte Schanninger ab
„Ich habe mich schon fast damit abgefunden, dass ich Frührentner werde“, sagt er mit Blick auf die fehlende Belastbarkeit. Fast ist er froh, dass es ihm nicht so schlecht geht wie einigen aus seiner Speyerer Selbsthilfegruppe, die sich informell zusammengefunden hat. „Das sind Leute, die sich manchmal keine Namen mehr merken und Zahlen nicht mehr summieren können“, sagt er.
Alkohol verträgt er nicht mehr
Was sein soziales Umfeld anbelangt, so hat sich bei Heiko Schanninger zum Glück nicht viel verändert. Er ist abends weniger mit Kumpels unterwegs. Und Alkohol verträgt er auch nicht mehr so gut. Ansonsten pflegt er die gewohnten Kontakte - vor allem zur Familie.
Doch wo liegt der Ursprung dieser seltsamen Erkrankung? Bisher rätselt die Forschung noch. Oft werden die Mitochondrien genannt, die sogenannten Kraftwerke der Zelle. Ausfälle dort werden als Ursache für die Krankheitssymptomatik gesehen. Wissenschaftler aus den Niederlanden wiederum sprachen vor wenigen Tagen von biologischen Veränderungen in Muskelzellen. Ernstzunehmen?
Patienten weinen in der Ambulanz
Denise Brandt ist Geschäftsführerin der Post-Covid-Ambulanz, wo Schanninger im Sommer aufschlagen soll. Brandt holt die Patienten dort ab, wo sie sind - und das ist oft am Boden. „Viele kommen und weinen. Sie wollen erstmal ernst genommen und nicht abgestempelt werden“, hat sie festgestellt. In vielen Fällen gebe es eine „psychische Vorgeschichte“, sagt Brandt. Dass es sich um eine neurologische Erkrankung handelt, steht auch für sie fest. Einige Patienten hätten „viel Stress“ gehabt vor ihrer Krankheit. Es seien überwiegend Frauen, die in die Ambulanz kommen - ganz selten Kinder. Von bisher rund 200 Patienten seien etwa 30 frühverrentet worden. Auch um die Bürokratie kümmere sich die Ambulanz, sagt Brandt.
Therapie mt Vitamin-C-Infusionen
Claudia Dupuis (kleines Bild) ist vor Ort Fachärztin für innere und Allgemeinmedizin. Sie verbreitet auch Hoffnung, denn nach Behandlungen zum Beispiel mit Vitamin C-Infusionen, Physio-, Ergo- und Atemübungen gebe es zwei Jahre nach Beginn der jeweiligen Erkrankung auch therapeutische Erfolge zu verzeichnen. Die Forschungslage sei aber noch dünn: „Wir können noch nicht auf viele Jahre zurückblicken“, sagt Dupuis und hofft, dass sie auch Heiko Schanninger einen Weg zurück zu gewohnter Stärke ebnen kann. Denn: Eine Frührente mit 41 wäre doch schon sehr früh.
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