Baden-Württemberg. Mit Blaulicht bahnt sich Daniel Schwenger mit seinem Rettungswagen den Weg zum nächsten Einsatz in der Mannheimer Innenstadt. Der Notfallsanitäter und sein Kollege Victor Derek sind zu einem Senioren gerufen worden, dessen Familie Lähmungserscheinungen bei ihm bemerkte. Die Leitstelle konnte einen Schlaganfall nicht ausschließen. Für die beiden Männer ist Eile geboten. Nun heißt es, die sogenannte Fast-Untersuchung vorzunehmen. Der Patient soll dabei grinsen und die Backen aufblasen. Überdies ist darauf zu achten, ob der Mann deutlich spricht und die Arme anheben kann. "Wir haben jetzt keine Hinweise auf einen Schlaganfall, aber wegen Kreislaufproblemen bringen wir ihn doch ins Krankenhaus", sagt Derek.
Der 28-Jährige und sein gleichaltriger Kollege arbeiten seit Jahren beim Roten Kreuz (DRK) in Mannheim, wo noch drei andere Hilfsorganisationen im Rettungsdienst engagiert sind. 14 000 Einsätze haben die Organisationen in diesem Jahr bereits gezählt. Ihre Arbeit orientiert sich an dem im vergangenen September veröffentlichten Landesrettungsdienstplan, dessen Wirksamkeit jetzt eine Gruppe von Kommunalpolitikern und Notärzten gerichtlich überprüfen lässt. Sie haben beim Verwaltungsgerichtshof in Mannheim einen Normenkontrollantrag gestellt, der am Freitag vor dem 6. Senat verhandelt wird.
"Ich mache mir damit keine Freunde", sagt Grünen-Stadtrat Chris Rihm, einer der Initiatoren des Antrags. Denn er richtet sich gegen die grün geführte Landesregierung. Aus Sicht des ehemaligen Rettungsassistenten und aktiven Einsatzleiter im Rettungsdienst hat sich die Versorgung der Patienten mit den neuen Vorgaben eher verschlechtert als verbessert.
Ein Dorn im Auge ist ihm und seinen Mitstreitern vor allem die Reform der Hilfsfrist, die das Land auf zwölf Minuten in 95 Prozent der Fälle festgelegt hat. Bislang galt laut Rettungsdienstgesetz: "Die Hilfsfrist soll aus notfallmedizinischen Gründen möglichst nicht mehr als zehn, höchstens 15 Minuten betragen." Maßgeblich dafür war die Zeitspanne vom Eingang der Notfallmeldung in der Integrierten Leitstelle bis zum Eintreffen der Hilfe am Notfallort an Straßen. Jetzt läuft die Stoppuhr vom Ende der Annahme durch den Disponenten bis zum Eintreffen der Hilfe am Notfallort - für Rihm ein "Taschenspielertrick", der die Hilfsfrist faktisch um ein bis zwei Minuten verlängere.
Bislang scheiterten die meisten der Rettungsdienstbereiche an den vorgeschriebenen Werten: Bei den Rettungswagen erreichten oder übertrafen im vergangenen Jahr nur Mannheim, Böblingen, Göppingen, Ludwigsburg und Rems-Murr die Marke von zehn bis 15 Minuten in 95 Prozent aller Fälle. Mannheim kam auf 95,6 Prozent. In den meisten anderen Bezirken waren 2022 die Werte gesunken. Insofern sieht Derek die neue Frist von zwölf Minuten für seinen Bereich nicht kritisch.
In ländlichen Gebieten müssten Kollegen aber bis zu 20 Minuten bis zum Einsatzort fahren oder Fahrzeuge würden aus anderen Rettungsbereichen abgezogen, wo dann aber neue Lücken entstehen. "Ein Grund ist, dass es immer weniger aufnehmende Kliniken gibt", sagt Derek. Manches lasse sich eventuell mit ehrenamtlichen Helfern und Einsatz von Rettungshubschraubern auffangen.
Aber die relativ guten Werte in Mannheim halten die Kritiker nicht vom Gang vor den Richter ab. "Wir sind nur unter den Schlechten die Besten", sagt Rihm. Und die Menschen in Baden-Württemberg seien schlechter gestellt als in anderen Bundesländern. "Wenn ich hier im Dreiländereck umfallen würde, dann würde ich lieber in Rheinland-Pfalz oder Hessen als hier umfallen", meint Rihm.
DRK-Landesgeschäftsführer Marc Groß hingegen kann mit der neuen Vorgabe leben: "Das ist ein angemessener, aber auch ambitionierter Wert." Er will sich nicht zu dem schwebenden Verfahren äußern, ist aber überzeugt, dass dieses "Versprechen auf die Zukunft" des Innenministeriums erreichbar ist. Dafür müssten aber alle ihre Hausaufgaben machen: das Land mit möglichen Investitionen in neue Rettungswachen im ländlichen Raum und Krankenkassen und Krankenhäuser mit digitalen Lösungen für den Zugriff auf Patientendaten bereits im Rettungswagen. Überdies müsse der Landesgesetzgeber weitere Gesundheitsberufe wie etwa eine Gemeindenotfallsanitäterin zulassen, um Fehleinsätze des Rettungsdienstes zu vermeiden.
Groß begrüßt auch die im Landesrettungsdienstplan festgeschriebenen erweiterten Kompetenzen für Notfallsanitäter, die jetzt mehr Medikamente wie Blutdrucksenker und Schmerzmittel verabreichen und kleinere invasive Eingriffe wie einen venösen Zugang vornehmen dürfen. An diesem Tag nutzen Derek und Schwenger die neue Freiheit aus und legen einem bei einem Straßenbahnunfall verletzten Jungen eine Kanüle.
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