Ludwigshafen. Das Gewicht lastet schwer auf meinen Schultern und Armen. Ich fühle mich von einer Minute zur nächsten um Jahre gealtert. In dem Alterssimuationsanzug, in den ich gerade geschlüpft bin, sind an allen Stellen Gewichte vernäht. Diese lassen mich - gefühlt - um einige Zentimeter schrumpfen. Der Helm, den mir Doktorandin Celine Blettner über den Kopf stülpt, ähnelt dem Kopfschutz eines Schweißers. Das Sichtfenster ist mit gelber Folie beklebt.
„Mit dem Alter trübt sich der Blick, das wird damit simuliert“, erläutert Gerhard Raab. Dann geht’s raus auf den Flur und ins Treppenhaus des neuen zentralen Gebäudes C der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft (HWG) in Ludwigshafen. Auf dem Hinweg bin ich mit leichten Schritten in den zweiten Stock geeilt. Jetzt geht der erste Griff an den Handlauf - es ist die unbewusste Suche nach Sicherheit im nun deutlich erschwerten Bewegungsablauf.
Forschungslabor im neuen Gebäude in der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen
Gerhard Raab ist Professor für BWL, Marketing und Wirtschaftspsychologie. Und er ist Leiter des Verhaltenswissenschaftlichen Forschungslabors, das die Hochschule seit drei Jahren unterhält. Im neuen Gebäude C ist es neu eingerichtet worden. Hier haben die Wissenschaftler viele Geräte am Start: Einen Computer und eine Brille, die genau den Gang der Pupillen verfolgen - auf dem Computerbildschirm, aber auch auf dem Weg beispielsweise durchs Einkaufszentrum. Es gibt den humanoiden Roboter Pepper, der schon beim Filmfestival auf der Ludwigshafener Parkinsel Besucher befragt - und auch ein wenig bespaßt - hat. Er ist Tester, wie gut sich humanoide Roboter beispielsweise auch in der Pflege einsetzen lassen.
Alterssimulationsanzug in vielen Forschungsbereichen einsetzbar
Und dann gibt es eben diesen Alterssimulationsanzug. „Unsere Studierenden sollen fühlen, was es bedeutet, irgendwann nicht mehr 30 zu sein“, sagt Raab. Der Anzug ist in nahezu allen Fachbereichen der Hochschule einsetzbar. Im Bereich Pflege etwa. So lässt sich simulieren, wie sich die Arbeitsbelastung anfühlt, wenn die Jahre ihren Tribut zollen. Oder wie sich die zu Pflegenden fühlen. Man könne noch so viel lesen oder Videos schauen: Am einprägsamsten sei immer noch das haptische Erlebnis, das Gefühl des Alterns und der veränderten rahmenbedingungen am eigenen Körper.
Auch in der angewandten Forschung nützt der Anzug: Wie hoch sollte die Ladekante des Kofferraums an einem Auto sein, wie der Einstieg und die Sitzhöhe? Und welche Hindernisse gilt es beispielsweise an einem Bahnhof zu überwinden? Und wo platziert der Kaufmann im Supermarkt die Ware? Die altersgerechten Produkte in Greifhöhe? Die günstige Ware außerhalb der Konfort-Zugriffszone? Der Alterssimulationsanzug gibt in all diesen Fragen Antworten.
Eye-Tracker in Ludwigshafen wird auch für Weincampus in Neustadt eingesetzt
Das Verhaltenswissenschaftliche Forschungslabor, erklärt Professor Raab, bietet Forschenden, Studierenden und Lehrenden eine umfasende Infrastruktur für Untersuchungen. Die zielen darauf ab, menschliches Verhalten in verschiedenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verstehen und nachzuvollziehen - und eben Schlüssel für die praktische Anwendung daraus zu ziehen.
Dazu dient auch ein weiteres Gerät im Labor: Der Eye-Tracker. Es gibt gibt ihn für den Bildschirm genauso wie als Brille. Am Bildschirm, der einem Computermonitor ähnelt, verfolgen Sensoren genau, wo der Blick des Betrachters hängenbleibt und wo nicht. Der Einstieg läuft über das Spiel „Wo ist Waldo?“. Auf einem Wimmelbild gilt es, eine bestimmte Figur zu finden und zu fixieren.
In der Praxis sind die Einsatzmöglichkeiten schier unendlich: Das reicht vom Programmieren einer Homepage bis zur optimalen Gestaltung von Auto-Cockpits. Finden Menschen auf den ersten Blick genau das, was sie suchen? Und wo muss der Designer möglicherweise nachjustieren? Für den Weincampus in Neustadt, der mit der Ludwigshafener Hochschule kooperiert, ist die Frage interessant: Wie wirkt das Eikett auf der Weinflasche? Welche Informationen transportiert es augenfällig?
Brille registriert die Bewegungen der Pupillen
Die Brille, die ebenfalls die Bewegungen der Pupillen registriert und speichert, potenziert die Anwendungsmöglichkeiten des Systems. Wie sieht’s mit den Kundenleitsystemen in den Einkaufszentren aus? Findet der Fluggast zügig den Weg zum richtigen Gate?
Aktuell nutzen die beiden Doktoranden Celine Blettner und Marc Ritter das Labor intensiv für ihre Forschungsarbeiten. Marketingexperte Ritter untersucht, welche Effekte verschiedene Zahlungssysteme auf das Kaufverhalten der Menschen hat. Verlocken mobile Zahlsysteme den Menschen dazu, mehr Geld auszugeben? Führt das zum Kontrollverlust? Oder ist das genaue Gegenteil der Fall? Hat der Mensch plötzlich Angst davor, die Kontrolle über sein Geld zu verlieren und gibt deshalb weniger aus? Dazu dienen ihm Geräte, die Körperreaktionen wie erhöhter Puls, steigende Hautfeuchtigkeit anzeigen und den Stress messbar werden lassen.
Die Psychologin Celine Blettner dagegen untersucht impulsives Kaufverhalten im Internet, wo sich Anbieter immer häufiger die Einflüsse von Social Media und Spielelementen zu nutze machen. Blettner: „Da findet gerade eine richtige Revolution statt“.
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