Rhein-Neckar. Keiner hat etwas gewusst, etwas wissen können? Von wegen! Jetzt belegt ein Buch mit Bildern aus Ludwigshafen, dass die Deportation der badischen und pfälzischen Juden am 20. Oktober 1940 durch die Nationalsozialisten für alle Bürger sichtbar geschah. „Es war ein öffentliches Ereignis, das zahlreiche Menschen beobachtet haben“, so Andreas Mix vom Berliner Dokumentationszentrum Topographie des Terrors.
„Es ist eine besondere Bildquelle der nationalsozialistischen Verfolgung“, betont Andrea Riedle, Direktorin des Dokumentationszentrums an der Stelle, wo der NS-Terrorapparat seinen Sitz hatte. Sie ist mit dem Stadtarchiv Ludwigshafen und dem Marchivum Mannheim Herausgeberin des Buchs, dessen Idee auf Mix zurückgeht. Denn während seiner Zeit als Mitarbeiter vom Marchivum sah er die Bilder und beschloss, sie mit Stefan Mörz, Leiter des Stadtarchivs Ludwigshafen, und weiteren Kollegen genauer zu erforschen – denn nirgendwo sonst sind Massendeportationen so genau dokumentiert.
Das Buch
Buchtitel: „Die Tat im Bild. Die Deportation von Jüdinnen und Juden aus der Pfalz nach Gurs“
Herausgeber: Topographie des Terrors, Marchivum Mannheim, Stadtarchiv Ludwigshafen
Autoren: Andreas Mix, Marco Brenneisen, Stefan Mörz, Markus Enzenauer, Christian Groh
Verlag: Metropol-Verlag, ISBN: 978-3-86331-787-4, 128 Seiten, 16 Euro. pwr
Josef Bürckel und Robert Wagner, die beiden Gauleiter der Nationalsozialisten für die Saarpfalz und Baden, wollten nämlich ihre Gaue in Berlin als erste „judenfrei“ melden. Also ließen sie mehr als 6500 Juden festnehmen, allein in Mannheim über 2000 Menschen. Zuvor habe man seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Juden „geächtet, entrechtet und zur Auswanderung gedrängt“, so Mix. Nun aber half der Staat nach, verschleppte sie. Am frühen Morgen des 20. Oktober, dem letzten Tag des jüdischen Laubhüttenfests, klingelten Polizisten und Beamte der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) bei den Juden. Binnen zwei Stunden mussten sie marschbereit sein. Sie durften nur einen Koffer bis zu 50 Kilogramm, Verpflegung und 100 Reichsmark mitnehmen, „alles andere wurde ihnen abgenommen“. In neun Personenzügen wurden sie nach Südfrankreich in das Lager Gurs gebracht, von dort einige Jahre später in Vernichtungslager.
Sammelpunkt im Hof der Maxschule
Vor der Abfahrt mussten die Juden an Sammelpunkten lange warten. Hier wurden sie registriert, dann mit Bussen – auch privater Unternehmen – abtransportiert. Einer dieser Sammelpunkte war der Hof der Maxschule in Ludwigshafen. Hier sind die Fotos entstanden. Man sieht außer den Juden und Polizisten auch Schüler sowie Passanten. „Täter, Opfer und Zuschauer sind auf einem Bild“, hebt Marco Brenneisen vom Marchivum hervor. Während die Juden „ratlos, verunsichert, ängstlich“ wirkten, weil sie ja nicht wissen, wo die Reise hingeht, habe sich der Fotograf „ganz offensichtlich frei bewegen“ und ohne Behinderung seine Aufnahmen machen können. Nur wer dieser Fotograf war, ist bis heute unklar.
Man weiß auch nicht genau, wie und warum die Fotos den Krieg überdauert haben. Herkunft und Urheber blieben „ungeklärt“, so Markus Enzenauer vom Marchivum. Irgendwie kam das Ehepaar Lina und Leo Alsbacher, das die Deportation überlebt und nach dem Krieg nach Ludwigshafen zurückgekehrt ist, in den Besitz der Aufnahmen. Nach ihrem Tod gelangten 21 Abzüge an die Jüdische Gemeinde und über die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und den damaligen Mannheimer Bürgermeister Karl-Otto Watzinger 1971 ans damalige Stadtarchiv Mannheim. „Allerdings wurden weitergehende Forschungen nicht betrieben“, so Enzenauer. Der Verbleib der Negative ist unklar.
Erst seit der 2022 eröffneten Marchivum-Dauerausstellung zur Zeit des Nationalsozialismus werden die Bilder komplett digitalisiert präsentiert, und das gab auch den Anstoß für weitere Forschungen. So können mittlerweile die Hälfte der Opfer, identifiziert werden. Das ermögliche, „sie aus der Menge der namenlosen Opfer herauszuheben“, so Direktorin Riedle. „Die Täter indes bleiben anonym“, bedauert sie. Die Fotos belegen zwar, dass außer Gestapo-Beamten auch reguläre Polizisten und Kripo-Beamte mitwirkten, doch gelang noch keine Identifizierung. „Es gab auch nach dem Krieg keine Ermittlungen gegen Beteiligte der Deportation“, ergänzt Andreas Mix. Denn das war „nur“ Freiheitsberaubung – und die war verjährt. Dass durch sie das Morden erst möglich wurde, blieb rein juristisch ohne Belang. Aber dass niemand aus der Bevölkerung es mitbekommen hat, das ist durch die Aufnahmen widerlegt. Sogar eine schwedische Zeitung berichtete damals von den Massendeportationen in Deutschland.
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